Engelslied
Herzens. Eine starb, nachdem sie beim Aufprall auf eine harte Gebäudekante enthauptet wurde und ihr Körper anschließend beim Sturz auf die Straße in zahlreiche Stücke zerbarst. Den letzten haben wir durch eine Entlüftungsanlage auf einem Dach verloren.« Aodhan schwieg eine Sekunde lang. »Die Menschen haben getan, was sie konnten«, fuhr er schließlich fort. »Aber es ging alles viel zu schnell. Er stürzte in die scharfen Rotoren, und danach gab es keine Hoffnung mehr. Sein Körper wurde in Stücke zerfetzt.«
Fünf Engel – von den fast dreitausend, die sich gewöhnlich in der Stadt und um die Stadt herum aufhielten. Das klang erst einmal nicht allzu dramatisch – bis man sich daran erinnerte, dass Engel sich nicht so fortpflanzten wie Menschen. Manchmal kam in einer ganzen Dekade nur ein einziges, vielgeliebtes Kind zur Welt, und es war auch schon einmal ein Jahrhundert vergangen, ohne dass überhaupt jemand geboren wurde. Fünf Engel in der Blüte ihrer Jahre zu verlieren war eine entsetzliche Tragödie.
»Sie müssen mit einem Ehrengeleit nach Hause gebracht werden.« Raphael war in diesem Moment ganz der Erzengel New Yorks, vom Verlust seiner Leute bis ins Mark getroffen, eiskalt wütend. »Setz dich mit Nimra in Verbindung, sie wird wissen, was zu tun ist.« Nimra war eine Engelsfrau von einigem Ansehen im Territorium, so weit wusste Elena Bescheid.
Ihre Anwesenheit wäre ein Zeichen des Respekts und der Anerkennung. Eine letzte Ehre, die ein Erzengel seinen gefallenen Soldaten erweisen kann.
»Sire.« Aodhan neigte den Kopf. Am Himmel schoben sich gerade Regenwolken vor den Sonnenuntergang, aber auch sie vermochten den Glanz seiner Haare nicht zu trüben.
»Und die Verletzten?«, bohrte Raphael weiter.
»Wir richten für sie im Turm einige Stockwerke her, in die sie verlegt werden sollen. Bis Mitternacht wird alles erledigt sein.«
Über die Stadt hatte sich eine unheimliche Stille gelegt. Raphael, dessen glühende Flügel ein stillschweigendes Zeugnis seiner Wut ablegten, sah hinunter auf die Straßen, in denen sich jetzt niemand lautstark stritt, kein einziges Auto hupte, keine Bremse quietschte. Die albtraumartigen Ereignisse des Abends hatten alle die kleinen Probleme ihres Alltags vergessen lassen.
Mehrere Minuten vergingen in tiefem Schweigen. »Zustand der Verwundeten?«, fragte Raphael schließlich.
»Dreihundertvierzehn brauchten aufgrund lebensbedrohlicher Verletzungen medizinische Notfallintervention«, antwortete Aodhan. »Sie werden monatelang ausfallen. Der Rest hat sich ein paar Knochen gebrochen, wobei der Großteil davon mindestens vier Wochen brauchen wird, um sich ganz zu erholen.«
Man hatte es ihr inzwischen erklärt, aber trotzdem verstand Elena noch nicht ganz, welches Medikament heute bei der Notfallversorgung zum Einsatz gekommen war. Wenn man es mit einem in der menschlichen Medizin verwandten Mittel vergleichen wollte, so schien Epinephrin ihm am ähnlichsten zu sein, aber keineswegs identisch. Laut Montgomery griff man zu diesem Mittel nur, wenn es gar nicht mehr anders ging, denn es hatte sehr starke Nebenwirkungen. Zwar ließen sich so die Selbstheilungsprozesse eines schwer verletzten Engels sogar dann beschleunigt in Gang setzen, während sich dessen Körper sonst vielleicht einfach abgeschaltet hatte – dafür verlängerte sich die Zeit bis zur vollständigen Heilung dann aber um Monate.
Seit Elena erlebt hatte, wie mit dem Mittel ein Engel wiederbelebt worden war, dessen Kopf nur noch durch die bloßliegende, nass glänzende Wirbelsäule mit dem Körper verbunden gewesen war, während seine untere Körperhälfte praktisch nur noch aus einem blutigen Stumpf bestanden hatte, waren ihr die Nebenwirkungen ziemlich egal.
»Die im Turm stationierten Heiler haben mit einigen Verletzten sprechen können, die wieder bei Bewusstsein sind«, sagte Aodhan, während sich um sie herum das Licht in Dämmerung verwandelte und Wolken die letzten noch verbliebenen Sonnenstrahlen schluckten. »Sie alle berichten von einem plötzlichen Schwindelgefühl und dass sie noch landen wollten, aber vorher wohl das Bewusstsein verloren hatten.«
Raphael schwieg. Als das Schweigen zu lange dauerte, warf Elena Aodhan einen Blick zu, um ihm mit den Augen eine Botschaft zu übermitteln. Ihre Bekanntschaft mit diesem Mann aus der Gruppe von Raphaels Sieben war noch relativ neu, anders als ihre Beziehung zu Illium, aber Elena hatte Aodhan als sehr einfühlsam erlebt. Einfühlsamer auf
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