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Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
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auf die Beerdigung zu informieren.
    Raphael schüttelte den Kopf. »Nein. Die Leute von Amanat haben ihre Toten nie in der Erde begraben. Es wird allen wie eine angemessene Art des Abschieds vorkommen.«
    »Und Caliane?« Elena band den Gürtel ihres Morgenrocks fester. »Geht es ihr so weit ganz gut?« Raphael hatte den Morgen bei seiner Mutter verbracht, während Elena von Isabel begleitet in Amanat auf Entdeckungstour gegangen war.
    »Sie trauert.« Raphael stand mit nacktem Oberkörper an der offenen Balkontür der Suite, die man ihnen im dritten Stock des Gästehauses zugewiesen hatte, und beobachtete das geschäftige Treiben auf der Straße. »Meine Mutter hat die Menschen von Amanat immer schon sehr geschätzt.«
    Dagegen ließ sich nichts sagen – Elena wusste, dass Caliane ihre Leute damals mit in den Schlaf genommen hatte, weil ihr so viel an ihnen lag. Die Bewohner von Amanat erwiderten diese Zuneigung offen und herzlich, was der ganzen Stadt eine gewisse Aura der Unschuld verlieh, als würden selbst die Mauern hier noch echte Herzenswärme ausstrahlen.
    »Kahla ist die Erste, die sie seit dem Erwachen verloren hat.« Raphael legte seine Hände auf die Elenas, als sie von hinten an ihn herantrat, um die Arme um ihn zu schlingen und ihre Wange in der lebendigen Seide seiner Flügel zu bergen, während ihre Hände die festen Muskeln seines Unterleibs liebkosten. »Sie würde den Ball absagen, wenn sie könnte. Aber dazu ist es nun zu spät.«
    Elena erinnerte sich an die tiefe Trauer, die sie in Calianes Augen gesehen hatte. »Warum ist sie so anders als andere Erzengel? Warum sieht nicht auch sie alle unter ihr Stehenden als austauschbar an? Sie lebt doch nun schon so unendlich lange.« Caliane schien stärker als alle anderen Engel an ihren Leuten zu hängen, stärker noch als Raphael. Und sie hing genauso an den Sterblichen wie an den Unsterblichen.
    »Das habe ich sie als Junge auch einmal gefragt. Wir hatten damals kurz hintereinander die Gebiete zweier anderer Erzengel besucht, und mir war aufgefallen, dass keiner der beiden seine Leute so behandelte, wie ich es von meiner Mutter her kannte.
    Sie erklärte mir damals, auch sie sei früher einmal so weit von der Welt entfernt gewesen wie die Erzengel, deren Gebiete wir besucht hatten, aber erst die Liebe zu meinem Vater und dann meine Geburt hätten sie grundlegend verändert.« Er schloss die Augen, gab sich dem Widerhall der Erinnerungen an eine Zeit hin, in der die Sonne seines Lebens gerade erst aufgegangen war. »Als Gattin und Mutter entdeckte sie die Fähigkeit zu lieben, und diese Liebe wog letztlich mehr als sämtliche Veränderungen, die Zeit und Macht mit sich brachten.«
    Elena dachte an das Leben, das hinter Caliane lag, versuchte, sich ein Leben unter dem Gewicht unendlich vieler Jahre vorzustellen. Wie war es wohl, ein Weltalter an sich vorbeiziehen zu sehen, sich dann zu verlieben und ein Kind zu gebären? Glücklich zu sein, nur, um dann mit ansehen zu müssen, wie der geliebte Partner dem Wahnsinn verfällt und von diesem Wahnsinn verzehrt wird, bis man selbst ihn exekutieren muss, weil es keinen anderen Weg mehr gibt. Wie war es wohl, selbst dem Wahnsinn zu verfallen, dem so sehr geliebten Kind, der letzten Erinnerung an den ebenso geliebten Partner, schweren Schaden zuzufügen? Wie war es, tausend Jahre zu schlafen und beim Erwachen keinen kleinen Jungen mehr vorzufinden, sondern einen erwachsenen Mann mit unglaublicher Macht, einen Mann, der einer Sterblichen Flügel gegeben hatte?
    »Wenn das mit uns geschieht …« Elena war nicht in der Lage, sich ein solch langes, mit solchen Tragödien belastetes Leben vorzustellen. »Wenn wir spüren, wie wir uns selbst mit der Zeit verloren gehen, wie uns verloren geht, was wir zusammen sind, dann will ich nicht schlafen wie deine Mutter. Ich möchte mich verabschieden, solange ich noch ich bin und du du bist.« Lieber ein rasches, sauberes Ende als ein langsames Sich-Auflösen in der Zeit.
    Raphael drehte sich um. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, seine Augen glühten weiß. »Caliane und Nadiel haben einander nie verloren, Elena. Meine Eltern haben sich selbst im Wahnsinn noch geliebt.« Und das würde er auch tun.
    Elena hakte die Finger in seinen Hosenbund. »Zusammen!«, sagte sie leise, und er wusste, woran sie dachte. Er hatte ihr von seinem Gespräch mit Caliane erzählt, sie wusste um ihrem ungewollten Eingeständnis in Bezug auf die flüsternden Stimmen in seinen Träumen. Sie

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