Engelslied
gewaschene Gildedirektorin, und ihre Tante ist sowieso der reine Wahnsinn.« Sie tätschelte Saras Schulter. »Deine Tochter wird nie zufrieden zu Hause hocken und Puzzles zusammensetzen.«
»Deacon hat ihr eine Miniaturarmbrust gebaut.« Sara sah aus, als wüsste sie nicht, ob sie entsetzt oder stolz sein sollte. »Zoe trifft schon damit. Dem Himmel sei Dank dafür, dass ihre ›Bolzen‹ weiche Spitzen haben, sonst wären ihr Dad und ich längst tot.«
»Du weißt, dass jede Gildejägerin und jeder Gildejäger auf sie aufpasst, und wenn es nach mir ginge, auch noch jeder einzelne Vampir und Engel aus dem Turm.«
Saras Gesicht leuchtete auf. »Womit du natürlich recht hast. Aber wahrscheinlich treibt sie das früher oder später in die Rebellion … wir müssen echt geschickt vorgehen, wenn wir sie vor Gefahren bewahren wollen.«
Das Objekt ihrer Pläne raste genau in diesem Moment wieder zu ihnen zurück, ganz atemlos vor Erregung, eine dunkelbraune Feder mit schwarzem Rand in der kleinen Faust. »Engel!«, hauchte die Kleine ehrfürchtig, während sie zart über die Handschwinge strich, die sie bisher erfolgreich vor einem Zerquetschtwerden bewahrt hatte.
»Gut gemacht, Baby.« Strahlend hockte sich Sara wieder hin. »Soll ich sie sicher für dich aufbewahren?«
Sara wartete, bis Zoe wieder zu ihrem Spiel zurückgekehrt war, ehe sie weitersprach. Ihr Gesicht war sehr ernst geworden. »Vivek wird uns brauchen, wenn er aufwacht. Ich kann den Gedanken kaum ertragen, dass er sich vielleicht von uns fernhalten muss.«
Elena empfand genauso. »Ich habe eine Idee, wie wir für die nötige Unterstützung sorgen können, ohne gegen seinen Vertrag mit Raphael und dem Turm zu verstoßen.«
Zwei Stunden später hatte sie Aodhan aufgespürt. Er saß hoch oben auf einer der Metallstreben der George-Washington-Brücke und ließ die Beine baumeln, während er den Verkehr unter sich betrachtete. An einem klaren Tag hätte er dort oben für Verkehrsteilnehmer eine viel zu gefährliche Ablenkung geboten, aber der Himmel hatte sich zugezogen, kein einziger Sonnenstrahl brach sich in seinen Flügeln. Die meisten Fahrer da unten bekamen wahrscheinlich gar nicht mit, dass sie beobachtet wurden.
Elena schaffte die Landung auf dem relativ schmalen Metallstück erst beim zweiten Versuch und nach langem Überlegen. »Nicht schlecht, was?«, begrüßte sie Aodhan lächelnd, wobei sie mit keinem Wort darauf einging, dass dieser hastig die Hand ausgestreckt hatte, um ihr notfalls beistehen zu können. Er hatte ganz automatisch so reagiert, seine Beschützerinstinkte waren also auf jeden Fall stärker als seine Angst vor Berührung. Interessant, fand Elena.
»Ihr Gleichgewichtssinn ist gut«, kommentierte Aodhan nachdenklich ihre Landung. »Aber Sie müssen die Muskeln trainieren, die man braucht, wenn man dicht über einer Oberfläche in der Luft schweben will.«
»Gibt es dafür spezielle Übungen?« Elena lernte gern dazu, war glücklich, wenn sie Ratschläge für einen sicheren Umgang mit dem Leben in der Luft bekam.
»Ja.« Aodhan wandte sich wieder dem Verkehr zu. »Ich kann sie Ihnen zeigen.«
Sie setzte sich neben ihn, sorgfältig darauf bedacht, ihn nicht mit den Flügeln zu berühren. »Halten Sie Ausschau nach jemandem?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich finde es nur faszinierend, wie schnell für die Leute, die dieses Land Heimat nennen, alles wieder im gewohnten Trott verläuft. Es ist noch keinen ganzen Tag her, dass der Fluss hier voller Blut war, aber das scheint niemanden mehr zu interessieren.«
Lachend richtete Elena ihren Pferdeschwanz, aus dem sich ein paar Haarsträhnen gelöst hatten. »Wir New Yorker sind ein zähes Volk, Aodhan. Wir gehen zu Boden, wenn man uns tritt, aber wir sind gleich wieder auf den Beinen, mit Wut im Bauch und Entschlossenheit in der Seele.« Sie liebte diese Sturheit, eine der Stärken ihrer Stadt. »Ein Außenseiter wird uns nie weinen sehen.«
Augen aus zersplittertem Glas richteten sich auf sie, die unendlich vielen Facetten spiegelten ihr eigenes Gesicht in erstaunlich klarer Vielfalt. »Ich habe unsere Unterhaltung über Angst und Einsamkeit nicht vergessen«, sagte er, ehe er den Blick wieder Manhattan zuwandte. »Sie und diese Stadt lehren mich einiges über den Umgang mit Schmerz und Furcht. Sie hatten recht, ich habe meine Wunden nun lange genug geleckt.«
Wie offen er auf seine emotionalen Narben verwies! Elena beschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen und einfach
Weitere Kostenlose Bücher