Engelslied
neue Fähigkeit ist, dann hat sie das Potenzial, mich von Grund auf zu verändern.«
»Was auf keinen Fall geschehen wird!« Seine Jägerin hatte dieses ihm so wohlbekannte dickköpfige Glitzern in den Augen. »Ich gebe meinen Mann nicht her.«
»Ich weiß.« Selbst in der seltsamen Kälte vorhin hatte er ihren Zorn gespürt, gepaart mit ihrer Leidenschaft, der alles erwärmenden Kraft ihrer Liebe. Diese leidenschaftliche Liebe hatte ihn in ihre Arme zurückgeholt, hatte jegliche Distanz beseitigt. »Aber jetzt gehört meine Frau ins Bett.« Elena hatte ein paar Nächte lang nicht richtig geschlafen, unter ihren Augen zeichneten sich schwarze Ränder ab. »Und wenn du nichts dagegen hast, erzähle ich dir vor dem Einschlafen noch ein paar Gutenachtgeschichten aus der letzten Kaskade. Blut, Tod, Vernichtung – du weißt schon.«
»Klasse!« Sie ließ den Morgenmantel fallen und schlüpfte, nackt wie sie war, mit ihrem geschmeidigen goldenen Körper unter die Bettdecke.
Er legte sich neben sie auf dieselbe Decke und zupfte ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Knoten, um mit ihnen zu spielen. »Hast du je von der verlorenen Stadt Atlantis gehört?«
»Natürlich.« Elenas Augen wurden ganz groß. »Die hat es wirklich gegeben?«
»Meine Mutter sagt, die Legende um Atlantis hat ihren Ursprung in der Geschichte einer Stadt im Wasser, die vor Tausenden und Abertausenden von Jahren existiert hat. Sie soll außergewöhnlich schön gewesen und von einem Erzengel mit großem Kunstsinn erschaffen worden sein, der über ähnliche Fähigkeiten verfügte wie die, die wir heute bei Astaad vermuten. Nur waren die Kräfte dieses Erzengels zu der Zeit, von der wir jetzt sprechen, bereits ausgereift.«
Das Strahlen in Elenas Augen erlosch. »Die Stadt wurde zerstört, nicht wahr?«
»Caliane ist sich nicht sicher, ob nicht doch noch ein Teil von ihr, beschützt von ihrem Erzengel, weiterhin am Grunde des Meeres ruht, aber eigentlich fiel sie, wie so viele andere große Zivilisationen, Kaskade-Kriegen zum Opfer.«
Diese Wunderwerke, Raphael, für immer verloren! Dinge, die sämtliche Errungenschaften und Bauwerke der modernen Welt in den Schatten stellen, wobei einem die Angeber von heute wie Kinder vorkommen, die nie wahre Anmut gesehen haben.
So hatte es ihm Caliane erzählt, und so gab er die Geschichte an Elena weiter. Er verschwieg ihr auch den Rest von Calianes Bericht nicht: Wie die Kriege einmal um den Globus gewandert waren, bis überall die Erde vom Blut der Sterblichen und Unsterblichen getränkt war. »Ein Jahrhundert, nachdem sie begonnen hatten, gingen diese Kriege zu Ende, aber da gab es die halbe bekannte Welt nicht mehr, und Zivilisationen wurden in ihrer Entwicklung Tausende von Jahren zurückgeworfen.«
Elena schüttelte hilflos den Kopf. Dieses Wissen war mehr, als sie zu verarbeiten vermochte. »Die Kaskaden … Du sagst, es gibt keinen Weg, um herauszufinden, wie viele schon kamen und gingen? Wie viele Zivilisationen fast ausgelöscht wurden und wieder ganz von vorn anfangen mussten?«
»Ja.« Er rückte dichter an sie heran, legte den Flügel um sie, vergrub seine Hand in ihrem Haar. Was jetzt kam, war der Auftakt zum letzten brutalen Akt. »Caliane hat mehr als eine Kaskade erlebt.« Soweit Raphael bekannt war, wusste das außer ihm niemand. »Sie sagt, sie sind nicht alle gleich verlaufen, und wenn sie sich ansieht, wie früh bei der jetzigen die Veränderungen im Kader sichtbar werden, dann könnte sich unsere Kaskade durchaus zur stärksten entwickeln, die sie im Laufe ihrer schon Ewigkeiten andauernden Existenz erlebt hat.«
Seine Jägerin versuchte nicht, ihre Angst zu verbergen, sondern schmiegte sich ganz eng an ihn. »Und wenn die letzte Kaskade in der Zerstörung der halben Welt endete …«
Raphael nickte schweigend.
Nach den Unheil verkündenden Gutenachtgeschichten ihres Gemahls war es ein Wunder, dass Elena überhaupt schlief. Aber sie schlief sogar gut und fest. Nur als sie aufwachte und die unheimliche Stille draußen ihr verriet, dass in der Nacht noch mehr Schnee gefallen war, überfiel sie das heftige Bedürfnis, dem Wahnsinn der unsterblichen Welt wenigstens für kurze Zeit zu entkommen.
Sara hatte an dem Morgen frei – so weit man als Gildedirektorin je freihatte – also verabredete sich Elena mit ihrer besten Freundin und deren kleiner Tochter in einem behaglichen Restaurant in der Nähe ihres Wohnhauses zum Brunch. Dort kannten der Besitzer sowie die meisten Stammgäste
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