Engelslied
mit ihren elf Jahren immer noch ein Kind, aber ihr Gesicht konnte völlig unerwartet so ernst werden wie das einer Erwachsenen. So wie in diesem Moment.
»Danke, dass du gekommen bist.« Große, graue, ernste Augen. »Ich wusste, du würdest es tun.«
»Bedank dich bei Amy, wenn du sie das nächste Mal siehst. Sie hat mich angerufen.« Elena beugte sich vor, um ihre Schwester zu umarmen.
»Amy kümmert sich immer um mich.« Eve erwiderte Elenas Umarmung herzlich. »Das gibt einen Riesenstreit zwischen Mom und Vater, was?«
Wie gern hätte Elena jetzt gelogen und der Kleinen vorgemacht, alles werde sich in Wohlgefallen auflösen, aber für solche Märchen war Eve zu klug und inzwischen wohl auch schon zu alt. »Ja, es dürfte zu einem ziemlich großen Streit kommen.«
»Könntest du Amy holen?« Eve richtete flehende Blicke auf Illium. »Das wäre bestimmt kein Problem, sie ist sehr …«
Elena berührte ihre Schwester sanft an der Schulter. »Ich habe Amy angerufen. Sie möchte lieber zu Hause bleiben.«
»Aber Vater wird sie bestrafen, weil sie dich angerufen hat!«
»Nein, das glaube ich nicht.« Jeffreys Gedanken kreisten jetzt um seine blutgetränkte Vergangenheit, nicht um kleine Verstöße gegen seine Oberhoheit als Hausherr und Vater. »Hier.« Sie reichte Eve ihr Handy. »Warum sprichst du nicht selbst mit Amy?«
Eve zog sich ein bisschen zurück, um in Ruhe telefonieren zu können. Als Illium Anstalten machte, etwas zu sagen, schüttelte Elena hastig den Kopf. Sie konnte nicht darüber reden, was heute passiert war, noch nicht. Aber als er den Arm hob, lehnte sie sich dankbar an ihn, genoss die Wärme seiner Freundschaft, die keine Bedingungen stellte.
»Amy ist doof«, verkündete Eve, als sie wieder zu den beiden Engeln zurückkam. »Sie findet, Vater sollte heute nicht allein sein, dabei war er so fies zu mir. Ich hasse ihn!« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und reckte wütend das Kinn.
»Ich hasse dich!«
»Sag so etwas nicht!« Elena ging vor ihrer Schwester in die Hocke. In ihrem Kopf hallten all die Worte wider, die sie Jeffrey an den Kopf geworfen hatte, als sie aus dem großen Haus ausgezogen war, um nie wiederzukommen. »Gut, er ist heute zu weit gegangen, aber was immer dein Vater auch tut, er tut es, weil er dich liebt.« Denn es war Liebe, wenn auch durch schreckliche Tragödien so verzerrt, dass sie drohte zum erstickenden Käfig zu werden. »Für mich und ihn dürfte es zu spät sein, aber ihr beide habt noch alle Chancen der Welt.«
Eves Augen blitzten nach wie vor aufgebracht, aber ihre nächsten Worte verrieten eine Unsicherheit, die deutlich machte, wie jung und unschuldig sie noch war. »Ich dachte, du hasst ihn auch. Tust du das denn nicht?«
»Ich weiß nicht genau, was ich für Jeffrey empfinde. Aber du liebst ihn, das weiß ich.«
Eve bohrte ihre Schuhspitze in den Boden und biss sich auf die Unterlippe. »Er ist ein guter Vater – außer, wenn es um die Gilde geht.«
»Ein paar blinde Flecken hat jeder.«
»Wird wohl so sein.«
Eine halbe Stunde später ließ Elena Eve in Montgomerys fähigen Händen zurück. Der Vampir war alt und gefährlich, er würde ihre Schwester mit seinem Leben beschützen – wie der Rest des Hauspersonals im Übrigen auch. Wäre Eve ihr ängstlich oder eingeschüchtert vorgekommen, dann hätte sie sich bestimmt anders entschieden und wäre bei ihr geblieben, aber die Kleine schien sich in dem großen Haus von Anfang an wohlzufühlen. Als Elena ging, weil für sie ein Jagdauftrag der Gilde eingegangen war, hatte Eve sich bereits mit dem Laptop ihrer großen Schwester am Küchentisch niedergelassen, sich in das Schulprogramm eingeloggt, um Hausaufgaben zu machen, und besprach gerade mit Sivya ein Problem aus dem Naturkundeunterricht.
Natürlich hätte Elena darum bitten können, durch jemand anderen ersetzt zu werden, aber sie war froh, auf der Jagd Spannungen abbauen zu können. Ein solcher Auftrag war genau das Richtige, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Also las sie sich rasch die Einzelheiten durch, die Sara ihr per Handy geschickt hatte und brach zu einem Flug über schneebestäubte Klippen auf, an denen sich in der nachmittäglichen Sonne glitzernd das Wasser brach, bis man sich nicht mehr vorstellen konnte, dass der Aufenthalt von nur ein paar Sekunden dort unten einem eine deftige Unterkühlung bescheren würde. Der Auftrag schien relativ einfach: Sie sollte einen einunddreißigjährigen Vampir zurückholen, der
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