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Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
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Geburtstag trotz Jeffreys Widerspruch ganztags an der Akademie eingeschrieben hatte. Die daraus entstandene Entfremdung dauerte jetzt bereits mehr als zehn Jahre an. »Ich musste trainieren, ich musste besser werden als die Va…«
    »Ja, und warum? Weil die Monster so stark sind, dass sie einem mit bloßen Händen den Kopf abreißen können.« Jeffrey kam um seinen Schreibtisch herum, packte Elena bei den Oberarmen und schüttelte sie, bis ihre Zähne aufeinanderschlugen. »Weißt du, wie es aussieht, wenn einer Frau der Kopf abgerissen wird? Das Blut spritzt heiß und dunkel, und es spritzt dir in den Mund, in die Augen, in die Nase, bis du nichts mehr sehen kannst, nichts mehr riechen kannst als Blut, Blut, Blut.«

32
    Elena erstarrte, konnte sich nicht mehr rühren, noch nicht einmal, um Jeffreys Hände abzuschütteln, die ihr die Oberarme zu zerquetschen drohten. Was hatte er da eben gesagt? Sie verstand nichts, gar nichts. Jeffrey war ein Deveraux, blaublütig, die Familie mindestens so alt wie diese Stadt. Geschichte, Familie und Tradition bestimmten, was ihr Vater war, Blut und Tod waren erst mit Elena, der »abnormalen« Tochter gekommen.
    »Ich war vier.« Jeffrey keuchte, sein Atem strich heiß über Elenas Haut. »Ich spielte unter der Werkbank, auf der sie ihre Werkzeuge reinigte. Ich wollte Polizist werden – sie hielt das für eine gute Idee. Ich schob meine Laster hin und her, während sie ihre Klingen schärfte …« Ein rascher Blick zu den Messern an Elenas Unterarmen, und Jeffreys Finger bohrten sich noch tiefer in ihre Arme. »Da kamen sie. Drei Vampire, die sich rächen wollten. Sie hatte sie zu ihren Herren zurückgebracht, wo sie bestraft worden waren.«
    Elena zitterte, ihr Herz tat einen unkontrollierten Satz. Vom wem redete er da? Soweit sie wusste, war Jeffreys Mutter quietschlebendig, es ging ihr gut, sie war immer noch für einige der größeren Wohltätigkeitsinstitutionen der Stadt tätig. Außerdem war Cecilia Deveraux keine Jägerin und auch nie eine gewesen.
    »Als ich ihr helfen wollte«, fuhr Jeffrey fort, »haben sie nur gelacht und mich beiseitegeschleudert, als wöge ich nichts.« Die Worte kamen hastig, abgehackt. »Beim Sturz brach ich mir beide Beine und einen Arm. Ich wollte zu ihr, aber es ging nicht, ich habe es nicht geschafft. Also musste ich zusehen, wie sie meine Mutter schlugen und traten, wie sie ihr jeden einzelnen Knochen im Leib brachen, ehe sie ihr den Kopf abrissen.«
    »Papa!« So hatte sie ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr genannt. »Papa, das tut mir so leid.« Sie schlang ihre Arme um seine Brust, drückte sich an ihn. Sein Körper fühlte sich an wie ein mit Eis überzogener Felsbrocken. »Es tut mir leid, es tut mir leid!«
    Ihr Vater drückte sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekam. Seine linke Hand ruhte auf ihrem Kopf, die rechte über dem Flügelansatz auf ihrem Rücken. Sein Atem ging stoßweise, zitternd, fast hätte sie meinen können, er weine. Aber das war ein Gedanke, den ihr Verstand einfach nicht akzeptieren mochte.
    Ihr Vater weinte nicht. Verwirrt und ängstlich wartete das Kind in Elena darauf, dass dieser Moment verging. Endlich atmete Jeffrey wieder gleichmäßig. Seine linke Hand streichelte sanft ihr Haar – eine Berührung, die sie von ihm überhaupt nicht mehr erwartet hatte.
    Ich werde immer dein Vater sein – und ich wünschte bei Gott, ich wäre es nicht.
    Nein, diese Worte verletzten sie jetzt nicht mehr. Als er sie sagte, hatte sie vor lauter Wut nicht hören können, welche Angst sich dahinter verbarg. Ihr Vater, dieser Mann, der sie so fest und gleichzeitig zart in seinen Armen hielt, hatte Angst, seine Tochter könnte ebenso schrecklich ums Leben kommen wie damals seine Mutter, und er müsste womöglich auch diesmal zusehen. Diese Erkenntnis veränderte die Grundlagen ihrer Beziehung so gründlich, dass Elena das Gefühl bekam, ihr Ankertau sei gerissen.
    Bestimmt würde dieser kostbare, zerbrechliche Augenblick zwischen ihnen beiden enden, sobald sie sich aus seinen Armen löste. Dann würde zwischen ihnen wieder die Mauer aus Verlust und Schmerz aufragen, die sie schon so lange trennte. Dieser Mauer mochte sich Elena noch nicht wieder stellen, sie hielt ihren Vater noch ein bisschen länger fest, und er erwiderte ihre Umarmung. Keiner der beiden sagte etwas, beide hielten alle denkbaren Worte dort verschlossen, wo sie niemanden verletzen, niemanden bluten lassen konnten.
    Aber die Welt drehte sich weiter,

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