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Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
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schwerwiegenden Grund gebrochen hatte. »Ist etwas mit Eve?«
    »Wir haben heute Nachmittag keine Schule, es ist unser halber freier Tag. Da kommen wir zum Mittagessen immer nach Hause. Nach dem Essen hat Vater Eve in ihr Zimmer gesperrt.« Die Worte kamen hastig, überschlugen sich fast, als hätte Amy sie eine Weile in sich aufgestaut. »Er sagt, in ein paar Stunden schickt er sie los, auf ein Internat in Europa.«
    »Wo ist deine Mutter?« Gwendolyn hatte um Eves Recht gekämpft, in Manhattan bleiben und die Gildeakademie besuchen zu dürfen.
    »Besucht Oma.« Amys Stimme zitterte. »Ich habe versucht, sie anzurufen, aber ich komme und komme nicht durch. Der Empfang ist da manchmal nicht gut, und jetzt regnet es dort auch noch gerade.«
    Elena wusste genau, wie hilflos man sich fühlte, wenn man seine Schwester beschützen wollte und nicht konnte. Wie konnte Jeffrey dies alles noch einer Tochter antun? »Ich kümmere mich darum!« Sie stand bereits in der Balkontür. Unter ihr glitzerte der Schnee im Sonnenlicht. »Bin schon unterwegs.«
    »Meine Fenster sind nicht groß genug für dich.«
    »Mach dir darüber keine Sorgen.« Elena hatte nicht vor, sich heimlich in das Heim der Deveraux zu schleichen. Jeffrey würde sich einer direkten Konfrontation stellen müssen.
    Keine zehn Minuten später stieß sie die großen Flügeltüren in Jeffreys Arbeitszimmer derart schwungvoll auf, dass sie heftig gegen die Außenhalterungen donnerten. »Sperrst du deine Kinder jetzt schon ein?«
    Jeffrey, der, in Papiere vertieft, am Schreibtisch saß, schreckte hoch, schob den schweren schwarzen Lederdrehstuhl zurück und stand auf. In seiner Goldrandbrille brach sich das Sonnenlicht. »Elieanora!«
    »Jawohl, ich bin es. Willst du mich auch einsperren?« Sie war so aufgebracht, sie konnte kaum noch an sich halten und musste sich mit der Hand am rechten Türrahmen festklammern. »Was ist mit dir los, Mann? Willst du, dass sie dich hasst, wie ich es tue?«
    »Ich will, dass sie lebt!« Auch Jeffrey hatte die Stimme erhoben – mehr noch, er schrie. Von dem aalglatten Geschäftsmann mit seiner eiskalten Logik, die er sonst immer so gekonnt als Waffe einsetzte, war nichts mehr geblieben. »Gestern ist sie mit einem blauen Auge nach Hause gekommen. Kampftraining. Kampftraining! Für ein Kind!«
    »Sie braucht dieses Training!«, schrie Elena. »Darüber haben wir doch schon gesprochen! Sie dreht durch, wenn sie nirgendwo hinkann mit ihrer Jägerfähigkeit.«
    »Zwei Töchter habe ich bereits verloren – ich werde nicht noch eine verlieren.«
    Eine klare, eindeutige Ansage, die Elena wie ein Schlag vor den Kopf traf. Die Worte ihrer Mutter kamen ihr in den Sinn. »Du machst das, um sie zu beschützen?«
    Jeffrey riss sich die Brille von der Nase, ließ sie auf den Tisch fallen und begegnete ihrem Blick mit schutzlosen Augen. Grau, wie Elenas, wie Eves. »Weißt du, was passierte, als du sechzehn Jahre alt warst?« Er hatte die Hände so fest zu Fäusten geballt, dass sie schneeweiß geworden waren. »Du warst während der Ferien auf der Akademie und bist mit drei gebrochenen Rippen in dein Internat zurückgekehrt. Drei Monate später war es ein ausgerenktes Schlüsselbein, sechs Monate später ein blaues Auge und ein gebrochener Kiefer.«
    Dann hatte das Internat all diese Verletzungen fein säuberlich weitergemeldet und Jeffrey hatte keine davon vergessen? Das war Elena nicht klar gewesen. Er hatte doch immer so gekonnt alles ausgeblendet, was mit dem Jägersein seiner Tochter zu tun hatte. »Das war alles notwendig«, stammelte sie ein wenig unbeholfen.
    Sie hatte am Intensivtraining während der Schulferien überhaupt nur teilnehmen können, weil die Gilde sich für sie eingesetzt hatte und vor Gericht gezogen war. Der Richter dort hatte ein Einsehen gehabt und verfügt, Elena dürfe auch ohne Jeffreys Zustimmung an dieser Art Unterricht teilnehmen. Genau wie Eve wäre auch Elena wahnsinnig geworden, hätte sie nicht wenigstens im Training Dampf ablassen, ihren Fähigkeiten freien Lauf lassen können. Wer als Jägerin geboren wurde, musste jagen, das Verlangen danach war wie ein Zwang.
    Aber ihrem Vater gegenüber hatte Elena ihr Jägerwesen immer gut versteckt, war ein gehorsames Kind gewesen, das sich nach seiner Anerkennung sehnte. Weil er es so wollte, hatte sie die nette, liebe Tochter gespielt. Zwischen ihnen hatte eine Art durch Schweigen erkaufter angespannter Frieden geherrscht, bis Elena sich nach ihrem achtzehnten

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