Engelslied
zusammengefaltetes Hemd. »Reicht das?«
Elena nahm das Kleidungsstück und versuchte, sich auf die im Stoff eingefangenen Gerüche einzustimmen.
Himbeere und Ingwer, mit einem Hauch Minze.
Ein schöner, erfrischender Duft, der nur leider nicht dem Hemd entstammte. »Gehst du bitte kurz vor die Tür?«
»Natürlich.«
Sie wartete ab, bis der Wind Himbeeren und Ingwer fortgeweht hatte, und holte erneut tief Luft.
Eine beißende Chemikalie … Desinfektionsmittel, abgeschwächt durch einen feinen Kuss Lilienduft.
»Ich brauche die zweite Probe«, sagte sie. »Du hast dafür gesorgt, dass sie von einem anderen Ort stammt?«
»Ja. Das Hemd kommt aus seiner Wäschekiste, das T-Shirt hier aus seiner Sporttasche.«
Der zweite Test brachte dasselbe Resultat. Das Desinfektionsmittel war also keine Verunreinigung, sondern Teil von Sidneys Geruch, so wie Elenas Jägersinne ihn wahrnahmen.
»Danke.« Sie gab das T-Shirt zurück und trat an die Dachkante, wo sie die Flügel öffnete und sich fallen ließ. Als Nächstes wollte sie das Haus von Sidneys sterblicher Familie ansteuern, die Adresse hatte im Anhang zum Jagdauftrag gestanden. Alle geflüchteten Vampire mit noch lebenden Verwandten tauchten irgendwann zu Hause auf – die Schlauen zu einem heimlichen Kurzbesuch, die Dummen, um zu bleiben.
Wie sich herausstellte, fiel Sidney in keine der beiden Kategorien.
»Seit er sich diese dreckige Angewohnheit zugelegt hat, habe ich ihn nicht mehr gesehen.« Die Worte wurden von der älteren Frau ausgespuckt, die Elena die Tür aufgemacht hatte. Ihre Augen waren ganz wässrig vom Alter, aber auf beiden Wangen glühten hochrote Flecken. »Blut trinken – ein Werk des Teufels!« Ohne weiteren Kommentar schlug sie Elena die Tür vor der Nase zu.
So ganz mochte Elena der Alten nicht trauen und umrundete deswegen das kleine, nach außen hin so ordentliche Häuschen ein paar Mal aufmerksam. Von Sidneys Geruch keine Spur. »Dies traute Heim war wohl nicht ganz dein Glück allein, Sid«, murmelte sie, indem sie sich auf der Feuerleiter zum ersten Stock hinaufhievte. Um auszugleichen, dass es bei ihr mit Senkrechtstarts noch haperte, hatte sich Elena zur Expertin für Starts aus geringer Höhe entwickelt. Einen Senkrechtstart hatte sie heute schon riskiert, ein weiterer war schlecht möglich, es sei denn, es ging um Leben und Tod.
Auch so musste sie die Zähne zusammenbeißen und zusehen, dass sie in die Luft kam, ehe sie den Bürgersteig küsste. Der Bericht hatte noch eine weitere Adresse genannt, aber die ignorierte sie erst einmal und steuerte stattdessen einen speziellen Teil des Central Parks an: das Bluttheater.
33
Sidney war auf sein politisches Pamphlet so stolz gewesen, dass er es unter seinem eigenen Namen veröffentlicht hatte. Ein solcher Mann gab sich nicht damit zufrieden, still und heimlich im Nebel unterzutauchen, ein solcher Mann brauchte sein Publikum. Elenas Instinkte sagten ihr, dass er sich so schnell er konnte bis zum Theater durchgeschlagen hatte.
Weißt du, wie es aussieht, wenn einer Frau der Kopf abgerissen wird?
Energisch blendete Elena eine Wiederauferstehung dieser Erinnerung aus, ehe sie sie überwältigen konnte, und bahnte sich fliegend einen Weg über die grüne Fläche im Herzen Manhattans. Sie wollte gerade an der angesteuerten Stelle landen, als ihr Kopf plötzlich Bedenken anmeldete und es sinnvoller fand, die Lage dort unten erst einmal genauer zu sondieren. Gut möglich, dass die Worte ihres Vaters sie zu dieser Vorsicht trieben – aber darüber mochte sie gerade überhaupt nicht nachdenken.
Die Bedenken schienen ihr auf jeden Fall berechtigt, war sie nach einer Landung doch verletzlicher als in der Luft. Sie empfand es als eine Art Ironie, dass sie, seitdem sie Flügel trug, zu Fuß nicht mehr so beweglich war, wie sie es als Mensch gewesen war. Sie konnte einfach nicht mehr so schnell laufen, und es fiel ihr schwer, sich unter tiefhängenden Zweigen hindurchzubücken. Falls die Jagd schieflief und sie schnell fortwollte, war ein Senkrechtstart leider keine Option, sie schaffte es einfach nicht, schnell genug in der Luft zu sein. Außerdem lag das von ihr angesteuerte Theater von Bäumen umgeben in einem sehr einsamen Teil des Parks, in dem bereits winterliche Dunkelheit aufzog, obwohl es noch nicht richtig Abend geworden war.
Sie hätte jetzt gern auf eine gewisse Unantastbarkeit vertraut, geglaubt, dass kein Vampir oder Engel auf Raphaels Territorium Hand an sie legen würde,
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