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Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nalini Singh
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ebbten wieder ab, bis sich zum Schluss eine einzige, schneidende Stimme über das Chaos erhob, lauter wurde, während die anderen fast verstummten. Fast, aber nicht ganz. Und die eine, scharfe Stimme stellte ihm eine Frage:
Wer bist du?
    Wieder berührten seine Füße das Gras, waren seine Flügelspitzen nass vom Tau. Und er spürte einen ungeheuren Zorn in sich aufsteigen. »Wer bist
du,
einem Erzengel Fragen zu stellen?«,
donnerte er.
    Woraufhin die flüsternden Stimmen lauter wurden, bis sie sich zu einem donnernden Crescendo zusammenfanden:
Erzengel. Erzengel. Erzengel!

4
    »Erzengel.« Elena packte Raphael bei der Schulter. Seine Haut fühlte sich seltsam kalt an. »Zeit zum Aufstehen!«
    Eigentlich wachte er immer gleich bei ihrer ersten Berührung auf, aber heute musste sie ihn ein zweites Mal rufen, ehe er die Augen aufschlug, das schonungslose Blau von einer Dunkelheit überschattet, die die lebhafte Farbe dämpfte. »Es ist ja schon hell!«, sagte er als Erstes beim Anblick der Lichtstrahlen, die durch das Fenster seines Arbeitszimmers fielen.
    »Du hast so tief geschlafen, dass ich dachte, ich schenke dir noch ein paar Minuten.« Was außer Schlaf konnte sie ihm denn sonst schenken? Einen Erzengel beschützen zu wollen war ein Ding der Unmöglichkeit. »Der Tag ist gerade erst angebrochen.« Sie sah ihm beim Aufstehen zu, diesem wunderbaren und gefährlichen Mann, der ihr gehörte, ehe sie selbst aufstand und sich den Morgenrock überstreifte. »Du hast zum Schluss so wütend ausgesehen. Ein schlechter Traum?«
    »Nicht eigentlich schlecht – eher seltsam.« Weiteres erfuhr Elena erst, als sie beide geduscht hatten und sich im sonnendurchfluteten Schlafzimmer anzogen, dessen Oberlichter und offene Balkontüren das frühe Morgenlicht wunderbar hereinließen. »Ich träumte von dem Feld, auf dem ich gegen Caliane kämpfte.«
    Elena hatte ihren Zopf festgesteckt und beschäftigte sich jetzt mit ihrer Armbrust, wobei sie der Waffe im Grunde keine große Aufmerksamkeit schenkte, konzentrierte sie sich doch mit all ihren Sinnen auf den Erzengel. Er sprach selten über jenen leidvollen Tag, und sie drängte ihn, was dies betraf, nie dazu. Angeblich sollte die Zeit ja alle Wunden heilen, aber Elenas Erfahrung nach war dieser Spruch ausgemachter Schwachsinn. »War deine Mutter auch in deinem Traum?«
    »Nein.« Mit nacktem Oberkörper betrat er den Balkon und breitete die Flügel aus, um die Sonnenstrahlen aufzusaugen. Die goldenen Handschwingen sprühten nun helles reinweißes Feuer – Elena ertappte sich dabei, wie sie mit den Fingerspitzen die lebende Seide entlangfuhr.
    »Was siehst du, Elena?«
    »In deinen Federn glüht jetzt eine Art Feuer.« Fast meinte sie, jeden Moment eine durchdringend weiße Flamme in der Hand zu halten. »Das ist unglaublich schön.«
    Achselzuckend warf Raphael einen Blick auf seine Flügel. »Solange sie funktionieren.« Er faltete die Schwingen zusammen und drehte sich um, um eins von Elenas Wurfmessern aufzuheben, das er ihr ins Futteral am linken Arm steckte. »Der Traum war nicht … wie er sein sollte«, sagte er, während sie den Riemen ihres Futterals ein wenig nach links schob. »Gestern war natürlich auch kein normaler Tag, da wundert es einen kaum, wenn ich von Gewalt träume.«
    »Ja, das könnte es sein.« Elena streckte ihm den rechten Unterarm hin, damit er ihr auch das zweite Wurfmesser in die Scheide stecken konnte. »Aber seit du das erste Mal meine Dienste beansprucht hast, habe ich so viele seltsame Dinge gesehen – ich gehe nicht mehr automatisch davon aus, dass alles so ist, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint.«
    »Du warst mir ein Rätsel, damals, als du meinen Auftrag übernommen hast. Das faszinierendste Geschöpf, das mir je über den Weg gelaufen war, fand ich.«
    »Fandest du nicht!« Anklagend richtete sie ein glitzerndes Messer auf ihn, das sie gleich darauf in das Futteral an ihrem Oberschenkel steckte, das sie sich über die eng sitzende Lederhose geschnallt hatte – alles an Elenas Kleidung war darauf angelegt, den Luftwiderstand zu verringern. »Du empfandest mich als Ärgernis, das man eigentlich aus dem Fenster hätte werfen müssen, um ihm Manieren beizubringen.« Er hatte sie bei ihrer ersten Begegnung dazu gebracht, eins ihrer Wurfmesser bei der Klinge zu packen, bis ihr Blut auf den Boden des Turmdachs getropft war. Er hatte ihr solche Furcht eingeflößt, sie hatte keine Spur von Menschlichkeit an ihm entdecken können. »Du

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