Engelslied
Handflächen – ging sie zurück ins Schlafzimmer, wo sich ihr Telefon befand. Sie hatte zurzeit keinen Auftrag, aber es bestand immer die Möglichkeit, ein paar Unterrichtsstunden in der Akademie zu übernehmen. Das war zwar nicht ganz so öffentlichkeitswirksam wie eine aktive Jagd, symbolisierte aber perfekt die Normalität, die sie ihrer Umgebung vorgaukeln wollte. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen und Raphaels »Ihr könnt mich mal!«-Haltung aufzugreifen, machte sie unterwegs bei einem Kaffeestand halt, den ein gewitzter Sterblicher auf dem Dach eines Hochhauses etabliert hatte. Engel, das hatte der Mann klar erkannt, tranken ebenso gern Kaffee wie normale Sterbliche.
Sie schaffte es sogar, über die Witze des Baristas zu lachen, während um sie herum mit leisem Klicken Fotos geschossen wurden. Die Geschäftsleute aus den umliegenden Gebäuden hatten sie erkannt und versorgten nun eilig ihre sozialen Netzwerke mit entsprechendem Material.
Möge es dir im Hals stecken bleiben!,
rief sie im Geiste dem unbekannten Feind zu.
Fünf von uns hast du umbringen können, aber falls du damit gleich die ganze Stadt brechen wolltest, dann hast du dich sehr geirrt!
Wieder musste sie an die blumengeschmückten Bahren auf ihrer Reise in die Zuflucht denken, weshalb sie einen dicken Kloß im Hals hatte, als sie sich, ihren Kaffeebecher in der Hand, mit angeberischem Schwung vom Dach stürzte. Auch ihr Abflug wurde allenthalben dokumentiert, was nicht zu überhören war.
In der Akademie überließ ihr der leitende Ausbilder bereitwillig den Unterricht der Fortgeschrittenen im Armbrustschießen. Man machte sich hier gern die Kenntnisse aktiver Jäger zunutze und war bereit, die Stundenpläne umzustellen, wenn einer von ihnen einmal zufällig über ein paar freie Stunden verfügte und vorbeikam.
Sie beendete den Unterricht und war gerade auf das Dach getreten, um von dort aus zum Hauptquartier der Gilde weiterzufliegen, als ihr Handy klingelte. »Eve!«, meldete sie sich lächelnd. »Gerade dachte ich, wir sollten mal wieder miteinander reden.« Auch Elenas jüngste Schwester war eine geborene Jägerin – zum großen Ärger ihres Vaters Jeffrey, der dies nur mit Widerwillen ertrug. Der verdammte Heuchler!
»Ellie, kannst du jetzt sofort kommen?« Schluchzen statt Eves sonst immer so vor Temperament übersprudelnde Stimme.
Elenas Lächeln verblasste. »Bist du in der Schule?« Sowohl Evelyn als auch ihre ältere Schwester Amethyst hatten bis zu den blutigen Ereignissen, die dort im vergangenen Frühjahr stattgefunden hatten, ein Mädcheninternat auf dem Lande besucht. In der Folge dieser Vorfälle waren Eves Fähigkeiten als Jägerin zutage getreten, weswegen sie inzwischen eine näher an der Gildeakademie gelegene Privatschule in der Stadt besuchte. Amethyst hatte sich ebenfalls für einen Schulwechsel entschieden, um weiterhin bei ihrer Schwester bleiben zu können.
»Ja.« Eve schniefte. »Ich verstecke mich.«
»Bin schon unterwegs!«
Ihre Schwester hatte wohl von ihrem Versteck aus Ausschau nach Elena gehalten, denn kaum war diese auf der makellosen Rasenfläche vor dem imposanten roten Ziegelbau der Schule gelandet, da kam ihr Eve auch schon die Treppen herunter entgegengeeilt.
Eve war gerade vor einer Woche elf Jahre alt geworden, wirkte aber, verheult wie sie war und mit fleckigem Gesicht, viel jünger. Und sie schluchzte immer noch, atemlos und verzweifelt, unfähig, ein Wort herauszubringen. »Süße!« Elena schloss die Kleine in ihre Arme und winkte den Lehrer beiseite, der ebenfalls oben auf der Treppe aufgetaucht war.
Dieser, ein älterer Herr im korrekten Anzug, runzelte missbilligend die Stirn, zog sich aber gehorsam hinter die schwere Holztür mit ihrem geschnitzten Wappen zurück.
Elena schlang beide Arme um den kleinen Körper in Schuluniform, biss die Zähne zusammen und brachte mithilfe schierer Willenskraft einen Senkrechtstart zustande. Eigentlich hätte sie dazu noch gar nicht in der Lage sein dürfen, so weit kannte sie sich mit der Entwicklung bei Engeln inzwischen aus. Einen Senkrechtstart schaffte erst, wer die nötige Muskulatur aufgebaut hatte, und das war bei ihr lange noch nicht der Fall. Aber Elena hatte die Vorstellung unerträglich gefunden, hilflos am Boden gefesselt zu sein, und deshalb eisern trainiert. Mit einigem Erfolg: Anmutig waren ihre Starts nicht, und sie taten verdammt weh, aber wenn es sein musste, bekam sie sie hin.
An den Fenstern der Schule drängten sich
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