Engelslied

So stellte sie sich das personifizierte Böse vor! Hätte es irgendwo auf der Welt irgendeine Möglichkeit für sie gegeben, Lijuan umzubringen, dann hätte sie keine Mühen gescheut und freudig die Messer gezückt.
    »Bienen, Ellie!«
,
drang knapp eine Minute nach der anvisierten Landung der Flugzeuge
die fröhliche Stimme ihrer Freundin aus Ellies Kopfhörer. Sara war im Kontrollraum des Turms, um von dort aus die Arbeit der Gildeteams zu koordinieren.
»So etwas hat man noch nie gesehen! Trillionen Bienen schwirren um Lijuans Leute, und alle sind fuchsteufelswild und stechen, was das Zeug hält!
    Aber warte, es kommt noch verrückter: Die Kämpfer, die nicht wie wild herumhüpfen und nach den Bienen
schlagen
, grinsen wie die Honigkuchenpferde, weil sie von oben bis unten mit Schmetterlingen gespickt sind! So viele Schmetterlinge auf einmal habe ich noch nie gesehen. Ich wusste gar nicht, dass die nachts überhaupt fliegen.«
    Lächelnd drückte Elena auf den Sendeknopf ihres Kopfhörers. »Naasir hat ein paar nette Tricks auf Lager!« Verdammt, wenn der Vampir so weitermachte, dann küsste sie ihn bei ihrem nächsten Treffen womöglich noch zum Dank auf seinen wunderbar freakigen Mund – und riskierte, gefressen zu werden.
    »Das kannst du laut sagen!«
Sara meldete sich ab.
    Zwei Minuten später bekam Elena die Bestätigung, dass die Flugzeuge zerstört worden waren.
»Haltet euch bereit! Alarm!«
,
tönte es sieben Minuten später aus ihrem Kopfhörer. So viel Zeit hatte das Ablenkungsmanöver mit den Bienen und Faltern ihnen immerhin verschafft.
»Feindliche Kräfte bereiten sich auf massiven Angriff vor.«
    Elena konzentrierte sich auf ihre Atmung, bis ihr Herz langsam und gleichmäßig schlug. Sie hielt den Blick fest auf den Himmel gerichtet, weswegen sie auch die flackernden, die Sinne verwirrenden Lichter sofort mitbekam, als sie zum ersten Mal aufflammten. Nach dem zweiten Aufflackern erhob sich im hinteren Teil von Lijuans Truppen ein wütender Schrei, während Pfeile aus Engelskraft den Turm um mehrere Straßenzüge verfehlten. An vielen Stellen ging Glas zu Bruch und Ziegel fielen, aber der Turm blieb unversehrt.
    War die durchgeknallte alte Schurkin etwa lichtempfindlich?
    Das mochte stimmen, immerhin waren ihre Augen sehr blass. Bei Tageslicht war ihr diese Empfindlichkeit nicht anzumerken, da sie wohl erst unter den richtigen Bedingungen zum Tragen kam. Elena beschloss auf der Stelle, Naasir, diesen gerissenen, hinterlistigen Tiger, auf jeden Fall zu küssen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Allein dafür, dass er das mit der Lichtempfindlichkeit herausgefunden hatte.
    Auch noch während der nächsten Minuten erhellten leuchtende Flammen den Himmel. Lijuans Wutschreie wurden immer durchdringender. Ihre Streitkräfte sahen sich gezwungen, am Boden zu bleiben, denn Lijuans Pfeile schossen völlig wirr durch die Gegend, niemand war vor ihnen sicher. Und dann ging das Feuerwerk los.
    Elena konnte nicht anders, sie musste kichern. Hier tobte eine Schlacht auf Leben und Tod, und ausgerechnet ein Feuerwerk sollte sie retten?
    Das Kichern verging ihr rasch, als ein Blick auf die Uhr ihr sagte, dass Raphael den Nachhauseweg wahrscheinlich erst zur Hälfte zurückgelegt hatte. Sie ließ das Blendwerk aus leuchtenden Farben nicht aus den Augen – und bekam es von daher sofort mit, als mitternachtsdunkle Klingen durch die Farbenwirbel schnitten, um den Turm und die darum herum liegenden Gebäude zu treffen. »Mist! Lijuan hat einen Weg gefunden, sich dem Licht anzupassen.« Sie versuchte, Lijuans Leute unter ihren eigenen zu entdecken, als mehr und mehr Flügel in der Luft schwirrten, wurde dabei aber selbst vom Feuerwerk geblendet. »Dmitri? Sag Naasir, er soll es abschalten!«
    »Drei Sekunden.«
    Das letzte bisschen Feuerwerk erlosch, als Lijuans zweite Attacke den Turm traf, dort einen deutlich sichtbaren Einschlag hinterließ und eine ganze Fensterreihe zum Bersten brachte. Elena suchte den Himmel ab, bis sie über dem Meer aus Flügeln das leuchtend weiße Haar des Erzengels von China entdeckt hatte. Leider zu hoch, so weit konnte man unmöglich mit einer Armbrust schießen. »Scheiße!«
    Das Feuerwerk war verpufft, die feindlichen Engel stürmten zum Angriff vorwärts. Elena biss die Zähne zusammen und zielte. Ihre Gegner strebten diesmal eindeutig die Landung auf den die Luftverteidigung beherbergenden Häusern an. Bald war es nicht mehr möglich, genau zu zielen und Hälse zu treffen, dafür