Engelslied
gab ihren Ansitz auf, wich den Pfeilen zweier feindlicher Kämpfer aus und mischte sich nun direkt unter die Angreifer. So dicht, wie sie diese jetzt vor Auge hatte, konnte sie auch wieder die verletzlichen Augen und Hälse ins Visier nehmen. Etliche Feinde stürmten mit hoch erhobenen Schwertern direkt auf sie zu, während andere den Rest der Verteidiger auf dem Dach in Gefechte verwickelten. Elena gingen die Bolzen aus, also ließ sie die Armbrust fallen, um noch in derselben Bewegung die Maschinenpistolen zu ziehen, die sie sich an die Schenkel gebunden hatte. »In Deckung!«
Ihre eigenen Leute ließen sich bei dem Warnruf sofort auf den Boden fallen und brachten sich rollend in Sicherheit, damit Elena das Dach mit einem Kugelhagel überziehen konnte. Die Körper der Feinde hüpften und zuckten, zuckten auch noch, als sie am Boden lagen, wo die stärkeren unter ihnen sofort mit der Selbstheilung zu ringen begannen. Blut und Hirnmasse spritzten auf den Betonboden des Daches, und trotzdem hörten Lijuans Leute nicht auf, zu stürmen, wollte die Welle kein Ende finden. Erst jetzt bemerkte Elena, wo sie inzwischen stand: direkt an der Dachkante. Sie wollten sie abstürzen lassen, sie musste losfliegen!
»Mist!« Sie hatten ihr eine Falle gestellt und waren bereit, dafür sich selbst und die eigenen Leute zu opfern. »Ransom!«
Zu ihrer Linken bellte Gewehrfeuer. Ransom achtete sorgsam darauf, nur ja nicht Elena zu treffen, während er ihre Rolle übernahm. Elena selbst stieß einen lauten Schrei aus, feuerte erneut wie wild und rannte, statt wie gewünscht von der Dachkante zu springen, mitten in die angreifenden Feinde hinein und durch sie hindurch. »Schieß weiter!«, brüllte sie Ransom zu, und auch sie selbst stellte das Gewehrfeuer nicht eine Sekunde lang ein.
Elenas Stiefel trampelten über zerdrückte, blutige Federn, bis jeder Schritt nur so knirschte. Fest entschlossen schoss sie sich einen Weg durch die verdatterten Engel, die noch aufrecht standen. Unzählige Kugeln flogen durch die Luft, sie konnte nicht allen ausweichen. Eine davon verpasste ihr einen Streifschuss am Arm, eine andere zog eine glühende Furche in ihre Wange, aber sie erreichte ihr Ziel, ohne schwer verletzt worden zu sein. Dort, nicht auf der anderen Seite, wie ihre Feinde es geplant hatten, sprang sie vom Dach. Hoffentlich würden ihr so viele Gegner wie möglich folgen, dann waren die Schützen dort oben erst einmal in relativer Sicherheit.
»Das ist meine Stadt, ihr Schweinehunde!« Elena, die das stundenlang geübt hatte, schnallte sich die Maschinenpistolen noch im Flug wieder um und schwang sich hinunter in eine der breiten Boulevards von Manhattan. Der Wind fegte ihr das Blut von der Wange. »Lasst uns Verstecken spielen.«
Und während über ihr die Schlacht tobte und Häuser erzitterten, weil sie von irregeleiteten Kraftblitzen getroffen worden waren, wurde es in der Stadt zunehmend dunkler. Elena wusste, was da vor sich ging, sie hatte es schon einmal erlebt. Als Raphael und Uram gegeneinander kämpften, hatten sich die beiden aus dem städtischen Versorgungsnetz mit Energie versorgt, aus Batterien, Konvektoren – aus allem, was sie brauchen konnten, um ihre Schläge zusätzlich mit Kraft anzureichern. Ähnliches passierte auch jetzt.
Aber die Dunkelheit war Elenas Freund. Sie biss die Zähne zusammen und führte die Engel, die sie verfolgten, in schmale Straßen und wieder hinaus, lockte sie in Gebäude, von denen sie wusste, dass der Durchgang gerade so eben für Flügel geeignet war, unter der High Line hindurch und in den Central Park, wo sie wusste, welche Bäume weit genug voneinander entfernt standen, um Engel durchzulassen. Sie waren schnell, die, die sich an ihre Fersen geheftet hatten, aber sie kannten Manhattan nicht.
Natürlich würde sie das nicht ewig durchhalten können.
Naasir, du verdammt schlaues Raubtier,
dachte sie, als ihre Flügel langsam müder wurden,
Zeit für eine Showeinlage!
Sie hatte es geschafft, irgendwann auf ihrem Flug einen kurzen Anruf per Handy zu tätigen, und lockte ihre Verfolger jetzt, wie ihr gesagt worden war, durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Hochhäusern.
Dieser Spalt mochte zwar von außen wie ein Durchgang aussehen, endete in Wirklichkeit aber als Sackgasse vor der Rückwand eines weiteren Gebäudes.
Als Elena vor dieser Wand ankam, machte sie mit weit ausgebreiteten Flügeln kehrt. Der Anführer der Verfolgerbande grinste hämisch, was gruselig aussah, bestand sein
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