Engelslied
Glaswand stand, durch die hindurch man das Schlachtfeld beobachten konnte. »Jasons Mann hat gerade noch einen weiteren Bericht geschickt. Er nennt jetzt die genaue Anzahl der Transportflugzeuge, die in unsere Richtung unterwegs sind.«
Die harten Linien im Gesicht seines Stellvertreters ließen Raphael nichts Gutes ahnen. »Wie viele?«
»Zehn.«
Zehn Transportflugzeuge voller Bodentruppen und Kurzstreckenwaffen. Damit konnte Lijuan sie hinwegfegen. Unten die Bodentruppen, oben die Engel. »Ich muss diese Flugzeuge erwischen, bevor sie gelandet sind. Oder doch wenigstens gleich danach«, sagte Raphael, wohl wissend, dass er damit vom Tod Hunderter sprach. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
»Wenn Sie sich mit einem Zauber vor ihr verbergen, kommen Sie an ihr vorbei«, sagte Dmitri, der kaltblütige, klarköpfige Stratege. »Aber sobald sie von der Zerstörung ihrer Flugzeuge erfährt, wird sie wissen, dass Sie nicht in Manhattan sind und sofort mit all ihren Kräften über den Turm herfallen.«
Und wenn der Turm fiel, war die Schlacht in den Augen der Welt beendet. Dann gehörte New York, dann gehörte Raphaels gesamtes Territorium Lijuan.
Natürlich würde Raphael kämpfen, um sich zurückzuholen, was ihm gehörte. Aber mit dem Verlust des Turms sank die Moral seiner Truppe ganz sicher unermesslich, denn der Turm war nicht nur einfach ein Gebäude, er war ein Symbol ihrer Stärke.
In diesem Moment kam Bewegung in die feindlichen Reihen. Raphael sah es im selben Moment wie sein Stellvertreter. Er beendete die Diskussion erst einmal und verließ den Turm, um sich in den Himmel zu schwingen. Die zweite Angriffswelle verlief wesentlich aggressiver als die erste: Wohin Raphael auch blickte, überall war der reine, weiße Schnee blutbefleckt.
41
Einen gnadenlos langen Kampftag später lag Elena erneut in ihrem Ansitz, der sie auch vor dem leichten Schneefall schützte, der erneut eingesetzt hatte. Endlich einmal durfte sie eine kurze Pause einlegen. Die Nacht war schön, hier und da schimmerten Sterne durch die Wolken. Eigentlich hätte sie die Ruhe zwischen den Angriffen genießen können, aber ihr Herz vermochte sich nicht zu beruhigen, denn Raphael hatte vor fast fünfundzwanzig Minuten die Stadt verlassen.
Dabei war er verletzt. Lijuan hatte ihn bei ihrem letzten Geplänkel verwunden können. Auf der einen Seite war das rohe Fleisch zu sehen, und seine Brust war verbrannt. Aber der Erzengel hatte die Verletzung achselzuckend abgetan, die in Elena den heftigen Wunsch geweckt hatte, der mordgierigen Bestie aus China die Augen auszustechen. Raphael konnte sich jetzt nicht mit seinen Wunden befassen, er musste sich darauf konzentrieren, die Frachtflugzeuge und ihre tödliche Last aufzuhalten. Wenn sein Plan aufging, bescherte er seinen Leuten damit einen hochwillkommenen Triumph, der der Moral seiner Kämpfer unendlich guttun würde. Die Sache konnte aber auch dramatisch schiefgehen.
»Naasir, du verrückter Hund«, flüsterte Elena leise. »Ich hoffe bei Gott, du kommst durch!« Die Flugzeuge dürften inzwischen gelandet sein. Die Aufgabe der Kämpfer in der Stadt bestand darin, Lijuan irgendwie abzulenken, damit Raphael nach erfolgreicher Zerstörung der Maschinen sicher in die Stadt zurückkehren konnte.
»In dieser Nacht werde ich vielen das Leben nehmen«, hatte ihr Raphael in den wenigen Minuten, die die beiden inmitten des Schlachtgetümmels für sich gehabt hatten, anvertraut. »Hunderte Vampire werden sterben, die doch nichts anderes getan haben, als ihrem Erzengel die Treue zu halten. Ich weiß, mir bleibt nichts anderes übrig, wenn ich meine eigenen Leute schützen will, aber trotzdem wird das Blut der anderen meine Seele beflecken.«
Der Ausdruck in seinen Augen bei diesen Worten hatte Elena schier das Herz gebrochen. Noch vor zwei Jahren hätte ihr Erzengel nicht so empfunden. Tausend Jahre als mächtiger Unsterblicher hatten ihn hart werden lassen, ihn von anderen Lebewesen entfernt. »Dass ihr Tod dir etwas ausmacht«, hatte sie geflüstert, »wird deine Rettung sein.« Denn Raphael unterschied sich inzwischen gründlich von Lijuan. Er betrachtete weder seine eigenen Leute noch die ihres Gegners als Wegwerfartikel.
Jetzt wartete sie auf seine Rückkehr, wollte ihn ganz fest halten und an sich drücken, damit er vielleicht ein klein wenig vergaß, welche Gräueltaten er hatte begehen müssen, nur weil ein anderer Erzengel sich für eine Göttin hielt. Von wegen Göttin, dachte Elena.
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