Engelslied
Stiefel huschte. Eine entsetzliche Ratte, so groß wie eine Katze.
Nur mühsam unterdrückte sie einen Aufschrei, ehe sie Ransom einen empörten Blick zuwarf. Der wiederum verkniff sich eindeutig ein Grinsen. »Du hättest mich warnen können!«, zischte sie ihn an.
»Du bist eine hartgesottene Jägerin, die es mit einem verflixten Erzengel treibt, und du schleppst einen Miniflammenwerfer und eine Armbrust mit dir herum – den Flammenwerfer könntest du mir übrigens ruhig in deinem Testament vermachen!« Auf Ransoms Wangen tauchten Lachfalten auf, seine Augen blitzten. »Jede Ratte erzittert bei deinem Anblick!«
»Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich nur fast
mit dir befreundet bin!«
»Autsch, Elena, das hat wehgetan! Hast du auf dem Herweg noch die Schutzmasken besorgt?«
»Natürlich.« Sie griff in eine Seitentasche ihrer Hose und warf ihm eine zusammengefaltete Atemschutzmaske zu. Ransom war wie sie selbst ein geborener Jäger mit einem extrem gut entwickelten Geruchssinn.
»Danke.« Er streifte sich die Maske über Mund und Nase und zog das Gummiband fest. »Oben ist der Geruch noch stärker.«
Der Gestank hier unten reichte ihr schon, eine ekelerregende Mischung aus Kot, verdorbener Nahrung und Urin. Hastig band sich auch Elena eine Maske um, ehe sie aus einer anderen Hosentasche ein paar Latexhandschuhe fischte und sie überstreifte. Ransom tat es ihr nach. Sie bedeutete ihm mit einer Geste, vorzugehen, trat ins Haus – allem Anschein nach waren sie hier in der Küche gelandet –, quetschte sich und ihre Flügel vorsichtig an etwas vorbei, das aussah wie die mumifizierte Leiche einer Katze und ging weiter bis zu der Tür, die in das eigentliche Haus hineinführte.
Sie landeten auf einem engen Flur, der Elena zwang, sich seitwärts drehend vorwärtszubewegen, sonst wären ihre Flügel mit dem dicken braunen Zeug in Berührung gekommen, das an den Wänden klebte. Mittlerweile atmete sie nur noch durch den Mund, denn ihr Verstand hatte den Hauptbestandteil des beißenden Gestanks analysiert: Hier im Haus lag eine verwesende Leiche.
6
Am Fuß der schmalen Treppe, die an der Wand entlang hoch in den ersten Stock führte, blieb Ransom stehen. »Halt dich ganz links«, flüsterte er Elena zu. »Und komm erst nach, wenn ich oben bin.«
Die Treppenstufen quietschten bedenklich erst unter Ransoms, dann unter Elenas Gewicht, aber letztendlich brach keiner von ihnen ein.
Ransom, nach wie vor die beiden gezückten Pistolen in der Hand, führte sie den oberen Flur entlang in ein Zimmer, in dem der Geruch des Todes so beißend in der Luft lag, dass Elenas Magen bestimmt rebelliert hätte, hätte sie sich nicht gegen den Würgereflex gewappnet. Aber nicht nur der Gestank war eine Zumutung, auch die Feuchtigkeit, die in dem Zimmer herrschte und an ihr kleben blieb. Irgendetwas schien das bisschen Wärme des Hauses einzufangen – was den hier stattfindenden Verwesungsprozess noch beschleunigte.
Die Quelle des Gestanks war unschwer auszumachen: Unter dem einzigen, mit Brettern vernagelten Fenster des Zimmers lag eine dreckige Matratze, die Elena nun umgehend ansteuerte. Mit Ransom brauchte sie sich nicht weiter abzusprechen, er würde ihr auch so Rückendeckung geben, darauf konnte sie sich verlassen. Die Leiche unter dem Fenster war vom Verwesungsprozess schon ganz aufgedunsen, ihre Haut kränklich grün. Aber der Kopf saß nach wie vor fest auf dem Hals, und unter dem Hemd des Toten schien, soweit man es auf den ersten Blick beurteilen konnte, die Brust unversehrt. Also befand sich wohl auch das Herz des Mannes noch in seinem Körper.
Der Gestank war hier so dicht bei seinem Ursprung noch beißender als im Rest des Zimmers. Elena musste ein paar Mal blinzeln, als sie sich neben die Leiche kniete. Der beißende Geruch hatte ihr Tränen in die Augen getrieben. Ohne den bereits im Körper eingezogenen Maden Beachtung zu schenken, zog sie die Oberlippe des Toten zurück.
Eckzähne, scharf und glänzend weiß.
»Ein Babyvampir ist das nicht«, nuschelte sie – nur den Mund nicht zu weit öffnen! »Keine Transformation, die schiefgelaufen ist.«
»Schau dir seinen Hals an.«
Elena zog eine dünne Stablampe aus dem Futteral an ihrem linken Oberschenkel und richtete sie, während ihre Flügel raschelnd mit Gott weiß was Bekanntschaft schließen mussten, auf den Hals des Opfers. »Himmel hilf!« Dicke, mit einer blutigen Flüssigkeit gefüllte Pusteln zogen sich am Hals des Mannes bis dorthin, wo sein
Weitere Kostenlose Bücher