Engelslied
Hemdkragen offen stand und von da aus offensichtlich auch noch weiter hinunter.
»Der Gestank killt mich, Elena!«, meldete sich Ransom von hinten.
»Mich auch.« Elenas Magen fühlte sich gar nicht gut an. »Lass uns abhauen.«
Unten auf der Straße rissen sich beide erst einmal die Masken vom Mund, um mit gierigen Zügen die kalte Winterluft einzuatmen. Die Handschuhe waren als Nächstes an der Reihe: Auch Elenas Haut brauchte dringend Luft. Als Ransom zwei Wasserflaschen aus seinem schwarzen Motorradkoffer fischte und ihr eine zuwarf, nickte sie dem Freund anerkennend zu.
»Eigentlich werden Vampire ja nicht krank«, sagte Ransom, nachdem er seine Flasche zur Hälfte geleert hatte.
Elena hatte sich Wasser in die hohle Hand gegossen und sich kurz das Gesicht gewaschen. Um den üblen Gestank ganz aus der Nase zu bekommen, würde sie allerdings ein paar Mal duschen müssen. »Nein, werden sie eigentlich nicht.«
»Sie sterben, wenn man ihnen den Kopf abschlägt«, fuhr Ransom fort. »Sie sterben, wenn man sie in Brand setzt oder ihnen das Herz herausschneidet – es sei denn, sie wären nicht nur uralt, sondern auch superstark. Dann überleben sie selbst das. Aber krank werden sie nicht mehr, sobald sie erschaffen sind. Eines ist auf jeden Fall klar: Mit der Leiche da oben hat Darrell absolut nichts zu tun.«
Das sah Elena auch so. »Ich werde jemanden aus dem Turm zur Beratung hinzuziehen müssen.« Einen erfahrenen Engel oder Vampir – vielleicht existierte ja doch irgendein seltsamer Vampirvirus, von dem sie nichts wusste, weil er höchstens eine verschwindende Minderheit dieser Wesen befiel. »Wahrscheinlich werden sie dich auffordern, eine Verschwiegenheitsklausel zu unterschreiben. Mit Blut.«
Ransom verdrehte die Augen und tat so, als würde er schon mal nach einer Vene suchen, während Elena Aodhan anrief. »Meiner Meinung nach haben wir es hier mit einer ernsten Sache zu tun«, sagte sie, nachdem sie dem Engel die Situation beschrieben hatte. »Ransom und ich sind noch beschäftigt, wir müssen unsere Jagd fortsetzen. Könnt ihr jemanden entbehren, der die Leiche bewacht, bis sie ins Leichenschauhaus abtransportiert werden kann?«
Aodhan bat um fünf Minuten Geduld, letztendlich vergingen jedoch fast fünfzehn Minuten, bis er selbst in Begleitung eines anderen Engels eintraf. Der zweite Engel war zierlich und schlank, kaum einen Meter siebzig groß, mit sanften, braunen Augen und vollen Lippen in einem fast schon weiblich anmutenden hübschen Gesicht. Nur die Ausstrahlung reiner Männlichkeit bewahrte Keir davor, für eine Frau gehalten zu werden.
Elenas Ungeduld verwandelte sich schlagartig in ein Gefühl tiefer Zuneigung, als sie dem Neuankömmling einen Kuss auf die Wange drückte. »Dann bist du sofort losgereist, nachdem es passiert ist?« Es. Der Sturz. Eine schreckliche, durch reine Böswilligkeit verursachte Tragödie – reduziert auf ein einfaches Wort.
»Raphael hat mir einen Jet gegeben, damit ich wach und fit hier ankomme.« Welcher Ernst, welche Weisheit in diesen braunen Augen lag. »Es war seltsam, im Bauch eines Metallwesens durch die Luft zu gleiten, obwohl ich doch selbst Flügel habe, aber seine Entscheidung war natürlich richtig.«
Aodhan wurde schon wenige Sekunden nach seiner Ankunft in den Turm zurückgerufen, also blieb Elena bei dem Haus, um Keir notfalls Rückendeckung geben zu können, während Ransom Runden drehte, weil er Darrells Spur aufzunehmen hoffte. Elena schaffte es noch einmal mit viel Anstrengung, ihren Magen zu beschwichtigen, und führte Keir durch den beißenden Gestank zu der Leiche, damit der Heiler sie sich ansehen konnte. Das tat er schweigend. Gesprochen wurde erst, als die beiden wieder draußen auf der menschenleeren Straße standen.
»Eine Infektion, eine echte Infektion.« Besorgnis in den samtweichen Augen. »Ich muss nachsehen, wie sie in seinen Körper gelangen konnte. Das geht nur mit einer Autopsie unter anständigen Lichtverhältnissen.«
»Ransom und ich haben nachgedacht, während wir auf euch warteten. Vielleicht hat das Opfer ja von einer falschen Person getrunken.«
Keirs Miene wurde noch ernster, noch finsterer. »Unsere Blutsverwandten sind so geschaffen, dass ihr Leib Unreinheiten im Blut herausfiltern kann. Deswegen kann ein Vampir bei jedem Spender trinken, selbst bei Menschen, die unter einer schrecklichen Krankheit leiden.« Nachdenklich sah er zu Boden, ein paar seidige, schwarze Haarsträhnen fielen ihm in das schmale
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