Engelslied
Gesicht jedoch bar jeden Ausdrucks. »Schon vor Vollendung deines ersten Jahrtausends wurdest du Kader. Dadurch warst du außergewöhnlich. Und jetzt …«
Endlich verstand er, worauf das hinauslief, erkannte, mit welchen Gedanken Elena sich marterte. Fast hätte ihn das noch mehr erbost; er musste sich sehr zusammenreißen. Wie hatte sie das zulassen, wie hatte sie sich auf solch heimtückische Art Schaden zufügen können? Er ließ ihr Kinn los, um sie nicht noch unwillentlich zu verletzen. Als er den Satz vollendete, den sie angefangen hatte, hörte man ihm seinen Ärger allerdings deutlich an. »Und jetzt sammeln die anderen todbringende Kräfte, während ich anscheinend nur eine negierende Kraft hinzugewonnen habe.«
Dickköpfig, wie sie nun einmal war, hielt seine Gemahlin seinem Blick stand. »Ja. Und das meinetwegen.« Der Schmerz in ihren Augen bohrte sich tief in sein Innerstes. »Ich bin deine Mörderin! Ich – und niemand anderes.«
16
Elena brachte ihn schneller auf die Palme als irgendwer sonst, aber immer noch schaffte es Raphael, seinen aufsteigenden Zorn zu bändigen. »Etwas hast du vergessen«, sagte er. »Meine neue Fähigkeit ist die einzige, die irgendwelche Auswirkungen auf Lijuan hat.« Der Erzengel von China war fassungslos gewesen, dass er es geschafft hatte, ihr einen körperlichen Schaden zuzufügen.
»Ja. Aber wir beide wissen doch genau: Das wird nicht reichen.« Elena war ganz blass geworden, so mühsam riss sie sich zusammen. Völlig angespannt, nur Muskeln und Sehnen, stand sie da, als sie jetzt die Hände sinken ließ. »Nicht gegen Lijuans Wiedergeborene und auch nicht gegen Nehas Umgang mit Eis und Feuer, um nur zwei der neuen Bedrohungen zu nennen. Das hast du selbst so gesagt!«
Aber seine Worte waren doch nicht als Anklage gegen sie gemeint gewesen! Und er hätte nie im Leben daran gedacht, dass Elena, immer so forsch, immer so ehrlich, solche selbstzerstörerischen Gedanken mit sich herumtrug, ohne je darüber zu sprechen. Aber er hätte damit rechnen müssen. Immerhin hatte seine Jägerin die Bilder vom grauenhaften Verlust ihrer Familie zwanzig Jahre lang in ihrem Innern verschlossen mit sich geführt, ohne darüber zu sprechen, hatte die Erinnerung selbst vor ihrer besten Freundin verborgen.
Wie zornig er war, auf Elena, auf Slater Patalis, den er am liebsten sofort wieder zum Leben erweckt hätte, um ihm einen langsamen, grausamen Tod zu bescheren. »Es ist nicht meine Art, hinter dem, was ich zu meiner Gemahlin sage, Anschuldigungen zu verbergen.« Wie konnte sie so etwas glauben! »Und ich werde nicht dulden, dass du deine Gedanken auf diese Weise vor mir verbirgst!«
In den Augen seiner Gemahlin tauchte ein gefährliches Glitzern auf. »Ich habe es dir schon mal gesagt – sprich nicht mit mir, als wäre ich einer deiner Soldaten und müsste diszipliniert werden!«
»Jedem Soldaten, der es wagt, mich anzulügen, würde ich ohne mit der Wimper zu zucken sämtliche Knochen im Leib brechen.« Elena hatte bisher ihm gegenüber nie ein Blatt vor den Mund genommen. Auch dann nicht, wenn es vielleicht klüger gewesen wäre, zu schweigen. Er hatte nicht vor, zuzulassen, dass sich das änderte.
»Pass auf!« Die silbergrauen Augen funkelten ungewohnt heftig. »Am liebsten würde ich meine Messer zücken.«
»Ach ja?« Spöttisch zog er die rechte Braue hoch.
Mit einem leisen Zischen fuhr sie ihm mit beiden Händen ins Haar, zog seinen Kopf zu sich herunter und presste, statt ihm kalten Stahl in den Leib zu rammen, ihre Lippen auf seinen Mund.
Er nahm den Kuss an, verlangte mehr, verlangte alles. Selbst jetzt, da sie beide aufgebracht waren, hart am Rande eines heftigen Wutanfalls, gehörte sie noch ihm. Sie würde ihm immer gehören. Er schlang die Arme um sie, während ihrer beider Zungen aufeinander einpeitschten, ihre Körper nur zu bereit für eine wütende, intime Schlacht.
Flügel zusammen!,
befahl er, ehe er sie in die Luft hob, seinen Zauber über sie breitete, bis beide für den Rest der Welt nicht mehr zu sehen waren.
Elenas Brust wogte heftig. Sie brach den Kuss ab. Raphael flog mit ihr über den Hudson, hielt auf Manhattan zu. »Lass mich los!«, rief sie. »Ich habe meine eigenen verdammten Flügel!« Immer noch zürnte sie, weil er es gewagt hatte, so mit ihr zu reden.
»Noch nicht.« Diesmal war er es, der sie küsste, mit der Hand ihren Zopf löste und gleichzeitig verhinderte, dass Elena sich losriss.
Natürlich hätte sie sich ihm entwinden
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