Engelslied
Bis auf ein rund um die Uhr geöffnetes Nudelgeschäft hatten alle Restaurants geschlossen, und auch nach Nudeln schien gerade niemandem der Sinn zu stehen: Im Lokal schob ein einsamer Kellner einen Mopp herum, wobei er sich zum Takt der Musik aus seinem Kopfhörer in den Hüften wiegte.
Einen Straßenzug lag leistete ihr eine verwahrloste Promenadenmischung Gesellschaft, ließ sich dann aber von einem überquellenden Müllcontainer ablenken, obwohl sie beide vorher an zahllosen verwesenden Vogelleichen vorbeigekommen waren, die den Hund offenbar nicht interessierten. Hier hatte sich niemand die Mühe gemacht, die kleinen Leichen zu entsorgen, und selbst die wilden Katzen und Hunde schienen zu wissen, dass man sich von diesem verfaulenden Fleisch lieber fernhielt.
Suchend sah sie sich um: ein Baugerüst. Jetzt wusste sie auch, warum hier keiner sauber machte. In dieser Straße wohnte zurzeit niemand, es unterhielt hier auch niemand ein Geschäft. Und auch Bauarbeiter schienen allem Anschein nach in den letzten Tagen nicht mehr hier gewesen zu sein. Entweder gab es ein Problem mit der Baugenehmigung, oder die Geldmittel waren versiegt. Auf jeden Fall lag ein Baustopp vor.
Eben noch hatte sie die Spur gerochen – jetzt war sie plötzlich verschwunden.
Sie ging ein paar Schritte zurück: Der Mensch, dessen Spur sie verfolgte, war die Treppe eines eingerüsteten Gebäudes hinaufgegangen.
Unsere Trägerin scheint Hausbesetzerin zu sein. Hier sind keine Wachleute, die sie davon hätten abhalten können.
Befindet sie sich jetzt im Haus?
Ja. Falls es keinen Hintereingang gibt, durch den sie raus sein könnte.
Moment.
Elena wartete kurz, dann meldete Raphael, der Hintereingang sei nicht passierbar.
Dann ist sie drin. Ich habe eine neue Spur gefunden und darunter eine ältere. Meiner Meinung nach zog sie los, um Blut zu verkaufen, und kam auf direktem Weg hierher zurück.
Eine Bö fegte die Straße entlang – das einzige Anzeichen dafür, dass Raphael gelandet war.
Pass bei den Stufen auf,
warnte ihn Elena, die inzwischen zur Haustür hochgestiegen war.
Meiner Meinung nach ist sie durch das Fenster da eingestiegen.
Das Fenster war hochgeschoben, in den Rahmen fehlte das Glas. Ideal für einen Einstieg von diesem Teil des Baugerüstes aus.
Wir brauchen deine männlichen Muskeln, um reinzukommen. Wenn das nicht unter dero Erzengelgnaden Würde ist?
Sein Kuss kam als totale Überraschung. Sie knutschte mit einem Mann, den sie nicht sehen konnte! Ehe sie sich daran gewöhnt hatte, ließ Raphael sie los und machte sich daran, die Bretter zu lösen, mit denen der Eingang vernagelt war. Bei ihm sah das so leicht aus – als lägen die Bretter einfach so da, von Nägeln keine Spur.
Dreißig Sekunden später war die Tür offen.
18
Es ist eng, aber wenn wir uns seitlich hineinschieben, müsste es gehen. Ich zuerst.
Ich bin die Jägerin! Ich sollte zuerst gehen.
Natürlich darfst du zuerst gehen. Wenn ich tot bin.
Raphael hatte so vernünftig geklungen – Elena, die gerade ihre Armbrust zückte, war darauf hereingefallen, meinte erst, Zustimmung gehört zu haben. Dieser Trick trug dem Erzengel einen finsteren Blick seiner Gemahlin ein.
Na, dann geh,
murmelte sie.
Über deine selbstherrlichen Tendenzen reden wir später.
Darauf freue ich mich schon sehr.
Er hatte vor dem Betreten des Hauses den Zauber fallen lassen, weshalb seine Flügel ihr die Sicht verstellten, bis sie den Eingang passiert hatten und die untere Etage des Hauses vor ihnen lag. Hier fehlten zwar die Trennwände, trotzdem machte das Gebäude eher den Eindruck eines privaten Wohnhauses. Vielleicht war hier auch gewohnt und
gearbeitet worden: Das Erdgeschoss war groß genug, um einem Ladengeschäft Platz zu bieten.
Oben,
sagte Elena, die den Geruch der Krankheit jetzt stark und klar, wie einen pulsierenden Lichtstrahl, in der Nase hatte.
Willst du nicht erst das Erdgeschoss durchsuchen?
Hier unten liegen nur die Toten. Seit mehr als ein paar Tagen, der Krankheitsgeruch ist deutlich schwächer.
Im Haus war es so kalt wie in einem Kühlschrank, die Leichen waren noch nicht verwest. Aber die Todesursache war unverkennbar: Es handelte sich um die Vampirpocken, denen auch die anderen Vampire zum Opfer gefallen waren.
Ihre ersten Opfer?
Vielleicht Testobjekte. Wahrscheinlich Junkies, Vampire, die dringend ihr Honigsaugen brauchten. Die lassen sich leicht verführen, wenn man selbst wie auf Droge wirkt. Eine perfekte Mahlzeit – haben die armen Kerle
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