Engelslied
Tagen in den Klauen hatte, weil sie nicht sicher sein konnten, wann der unsichtbare Gegner zum nächsten Schlag ausholen würde. Der schien erst einmal ausbleiben zu wollen, in der Stadt waren alle zu ihrem normalen Leben zurückgekehrt.
Es war kein Frieden – New York war und blieb New York – aber Krieg herrschte ganz sicher auch nicht. »Ich weiß, du möchtest die Stadt nicht verlassen«, fuhr Elena fort. Ihr ging es genauso, sie hatte da so ein Kribbeln im Nacken, als wollte ihr jemand sagen, dass trotz der seltsamen Flaute jetzt beileibe nicht alles ausgestanden war, dass der Sturz der Engel und die tödliche Krankheit erst der Anfang gewesen waren.
Raphaels Flügel lagen stark und warm unter ihrem Körper, seine Stimme klang in der mondlosen Dunkelheit wunderbar tröstend und vertraut. »Wenn wir nicht hingehen, bekunden wir damit indirekt unser mangelndes Vertrauen Illium, Aodhan und den Schwadronen gegenüber, die den Turm bewachen.«
Schläfrig geworden, zeichnete sie Muster auf seine warme Haut. »Und spielt das eine Rolle, wenn unsere Stadt von Wiedergeborenen mit Schaum vor dem Mund angegriffen wird, während wir in Amanat zierlich an Bobons knabbern?«
»Deine Bilder sind wie immer drastisch und treffend,
Hbeebti
.« Wie nebenbei streichelten seine Finger die empfindlichen Innenkanten ihrer Flügel, was sie glücklich machte, ohne dass sie hätte sagen können, warum das so war. »Aber während des Balls werden keine Horden in unsere Stadt einfallen.«
Sie breitete die Flügel aus, damit er sie auch von außen streichelte, seufzte wohlig, als er ihrer unausgesprochenen Bitte sofort nachkam. »Davon scheinst du ja fest überzeugt zu sein.«
»Hinter den Angriffen steckt jemand aus dem Kader, einem anderen Engel wachsen solche Kräfte auch während einer Kaskade nicht.«
Elena nickte, sie hatte Jessamys Forschungsbericht über die Auswirkungen der letzten Kaskade gelesen. Die zur Verfügung stehenden Informationen waren zwar nur bruchstückhaft gewesen, aber letztendlich hatte die Historikerin Calianes Erinnerungen bestätigt: Nur die Erzenengel hatten sich damals grundlegend verändert. »Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Wer immer es auf uns abgesehen hat, sitzt in der gleichen Falle wie wir.«
Raphael schob mit der einen Hand Elenas Haare zur Seite, um seiner Gemahlin den Nacken massieren zu können, während er sich die andere Hand hinter den Kopf schob. »Er oder sie muss am Ball teilnehmen. Es nicht zu tun wäre eine Beleidigung der einzigen Uralten, die wach ist, und würde noch dazu darauf hindeuten, dass der Betreffende seinen eigenen Leuten nicht traut und sein Gebiet nicht in deren Hand zurücklassen mag. Es gibt allerdings auch noch einen dritten Aspekt.«
»Halt, nicht verraten!« Elena war dahingeschmolzen, als Raphael sie berührt hatte, sie musste ihren Verstand erst einmal wieder zusammenklauben. Etwas mühsam richtete sie sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen, um sein Gesicht beobachten zu können. Mal sehen, wie gut sie die Welt der Erzengel inzwischen verstand. »Nicht zu erscheinen wäre äußerst unhöflich«, äffte sie den Tonfall nach, den die älteren, steifen, auf Haltung bedachten Engel so gern an den Tag legten. »Und eine Stadt anzugreifen, deren Erzengel sich gerade auf dem Ball einer Uralten befindet? Undenkbar! Ganz schlechte Kinderstube! Wer sich so benimmt, der hätte ja von Sterblichen erzogen worden sein können!«
»Absurd, nicht?« Lachen schlich sich in das berauschende Blau von Raphaels Augen, eine Hand legte sich besitzergreifend auf Elenas Kreuz. »Aber die Regeln des Gastrechts sind zentraler Bestandteil dessen, was die Welt zusammenhält. Wer als Erzengel gegen diese Gesetze verstößt, wer sich so unfassbar schlecht benimmt, würde verstoßen. Und die Ewigkeit kann sehr lang sein, wenn man keine Freunde hat.«
»So formuliert, klingt es überhaupt nicht mehr absurd, sondern total einleuchtend.« Elena beugte sich vor und stahl sich einen raschen Kuss, einfach nur so, weil es gerade möglich war. »Gewisse Erzengel versuchen doch ständig, andere hinterrücks zu ermorden, da könnte ja niemand mehr Partys geben.«
Ihr eigener Erzengel nickte grinsend. »Nicht einmal Lijuan würde es ertragen, derart gemieden zu werden. Sie mag sich vielleicht durch brutale Gewalt Gehorsam verschaffen können, aber ein Verstoß gegen das Gastrecht ließe sie den Respekt der anderen verlieren, den sie genauso liebt wie ihre Macht.« Seine Hände
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