Engelslied
gedacht.
Wieder ging Raphael voran, und obwohl sich beide Engel bemühten, leise zu sein, knarrten und stöhnten die alten Stufen unter ihrem Gewicht. Einmal wäre Elena fast durch ein morsches Brett gefallen, Raphael konnte sie gerade noch zurückreißen. Aber nach wie vor hatte es nicht den Anschein, als hätte die Gesuchte ihre Anwesenheit bemerkt. Wenn man es genau nahm, gab es in diesem Haus gar keine Anzeichen von Leben.
Bist du sicher, dass sie hier ist?
Ja. Der Geruch ist frisch und markant. Ob die Frau tot oder nur krank ist, kann ich nicht sagen, aber ich rieche die Krankheit sehr deutlich, obwohl sie eine Sterbliche ist.
Elena deutete auf eine Tür, die Raphael sich daraufhin ansah, während sie selbst den Flur hinunter in das andere Zimmer auf diesem Stockwerk huschte, um sicher sein zu können, dass sich dort niemand aufhielt. Als sie sich wieder zu Raphael umdrehte, genügte ein Blick in sein Gesicht, und sie wusste Bescheid.
»Verdammt!« Elena drängte sich an ihm vorbei ins Zimmer. Dort lag die Frau, nach der sie gesucht hatten, neben einem Bett, das wohl beim Leerräumen des Hauses vergessen worden war. Ihre Augen standen weit offen, ohne etwas zu sehen, und dort, wo nackte Haut erkennbar war, zeichneten sich die verräterischen Pusteln ab. Nicht ganz so hässlich und feucht wie die bei den Leichen der anderen Opfer, aber es handelte sich eindeutig um die gleiche Krankheit.
»Eine Trägerin, deren eigene Lebenszeit nur von kurzer Dauer ist.« Raphael hatte die ganze Szene mit klinisch distanziertem Blick in sich aufgenommen. »Ineffizient.«
»Wenn wir recht haben und einer aus dem Kader einen Angriff auf die Stadt geplant hat …«
»… dann könnte es sein, dass er oder sie nicht stark genug ist, die Träger zu immunisieren.« Raphael nickte. »Sämtliche uns aus der Kaskade erwachsenen Kräfte scheinen in Bezug auf ihre jeweilige Stärke noch nicht ausgereift zu sein.«
Elena sah sich die Tote genauer an. Anzeichen dafür, dass die Frau drogenabhängig gewesen war und sich irgendwo angesteckt haben könnte, gab es auf den ersten Blick keine. Endgültige Antworten würde erst eine Autopsie liefern; Raphael hatte sich bestimmt schon mit Keir in Verbindung gesetzt. Für sie blieb nichts weiter zu tun, als das Zimmer gründlich zu untersuchen.
Das war schnell getan. »Nichts!« Elena bezwang den Drang, gegen eine der schimmelfleckigen Wände zu treten – wobei der Schimmel immer noch besser war als die darunterliegende Tapete mit ihren riesigen Blumen. »Hier ist absolut nichts, was uns sagt, wer sie war oder woher sie kam!«
»Kein Wunder. Ihrem Erzengel wäre kaum daran gelegen, wenn sie sich selbst verraten würde.«
Raphael ging also davon aus, dass die Frau sich freiwillig für diesen Einsatz gemeldet hatte. Leider sah Elena das auch so. Denn die jetzt so bemitleidenswerte tote Person dort neben dem Bett hatte den Tod aus ihrem Körper gepumpt. Jedes Mal, wenn sie ihr Blut verkauft hatte. Die toten Vampire unten im Haus sprachen eine beredte, unmissverständliche Sprache: Die Frau hatte gewusst, was sie verkaufte.
Gegen Mittag bestätigte Keir, dass die Krankheit im Körper der jungen Frau mit der Seuche identisch war, an der die anderen Opfer gestorben waren. »Aber sie trug die Krankheit viel länger mit sich herum als die anderen«, sagte der Heiler. Die alten Augen in dem schönen, so jugendlich wirkenden Gesicht blickten traurig und müde. »Mindestens zwei Wochen. Damit ist sie entweder das erste Opfer oder die Trägerin.«
Elena hörte sich um, ob es noch andere Berichte über Vampire gab, die unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen waren. Nichts. Als auch vier Tage nach dem Auffinden des toten Mädchens keine weiteren Todesfälle gemeldet worden waren, schien es immer sicherer, dass es sich bei ihr um die einzige Trägerin des Virus gehandelt hatte. Am fünften Tag erteilten sie
Blut und Günstig
endlich wieder die Erlaubnis, eigenes Blut auszuschenken. Marcia sollte aber sicherheitshalber auch weiterhin von Zeit zu Zeit Überprüfungen vornehmen.
Inzwischen stand die Abreise nach Amanat bevor. »Können wir uns irgendwie vor diesem Ball drücken?«, erkundigte Elena sich bei Raphael am Abend vor dem Aufbruch, während sie im Bett lagen. Sie hatten sich im Anschluss an ein Trainingsprogramm, bei dem sie sich sämtliche Spannungen aus dem Leib gefochten hatten, unerwartet verspielt geliebt. Es war schön gewesen, den Druck loszuwerden, der sie nun schon seit
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