Engelslied
liebkosten lässig Elenas Rundungen. »Und errätst du auch die Ironie, die dieser speziellen Situation eigen ist?«
Nachdenklich runzelte sie die Stirn, wollte gerade passen – als der Groschen fiel und sie vor Lachen ein Weilchen nichts mehr herausbrachte. »Lijuan ist nicht eingeladen.« Natürlich nicht – immerhin hatte sie versucht, Caliane und deren Sohn umzubringen. »Aber die anderen haben sie am Hals, wenn sie gegen die Regeln verstoßen, weil sie derart pedantisch auf der alten Art zu leben besteht.«
»Genau.«
»Manchmal frage ich mich, ob nicht doch irgendwo ein Benimmbuch für Engel … Moment!« Sie tippte sacht gegen Raphaels rechte Schläfe.
»Was ist?«
»Moment, habe ich gesagt.« Elena schaltete die Lampen an, die die obere Betthälfte in sanftes Licht tauchten, beugte sich dicht über Raphaels Gesicht und fuhr mit dem Daumen über die Stelle, die sie eben entdeckt hatte. »Du hast da etwas auf der Haut.« Was sie gesehen hatte, ließ sich aber mit dem Daumen nicht wegreiben. Elena mochte es nicht auf sich beruhen lassen und stieg aus dem Bett, um sich im Bad einen nassen Waschlappen zu holen.
Als sie sich, den nassen Lappen in der Hand, umwandte, stand Raphael in der Badezimmertür. Sie bat ihn, sich zu bücken, damit sie den winzigen Flecken abwischen konnte, aber der erwies sich als hartnäckig. Elena versuchte es mehrmals, auch mit einem bisschen Seife auf dem Wachlappen, falls Raphael irgendwo mit einem schwarzen Filzstift in Berührung gekommen sein sollte. Das wäre ihr allerdings schon gleich aufgefallen und nicht erst jetzt …
Vorhin war dieser Fleck ganz bestimmt noch nicht da gewesen. »Ich bekomme ihn nicht weg.« Ihre Stimme klang gelassen, dabei breitete sich in ihrem Magen gerade ein ganz schreckliches Gefühl aus.
Raphael drängte sich an ihr vorbei ins Bad und vor den Spiegel, um sein Gesicht selbst zu untersuchen. Elena trat neben ihn. Vielleicht hatte ihr ja das Licht einen Streich gespielt. Nein, der Fleck war da, so winzig, dass die meisten ihn gar nicht bemerkt haben würden, aber eindeutig sichtbar. Dabei durfte es ihn doch gar nicht geben. »Vielleicht ein Insektenstich!«, meinte sie verzweifelt, um nur nicht über tote Vampire und ansteckende Krankheiten nachdenken zu müssen.
»Nein, dazu heilen wir zu schnell. Ein Insektenstich wird auf unserer Haut gar nicht sichtbar.« Mit finsterer Miene drehte sich Raphael zu ihr um. »Was ist jetzt? Kannst du ihn sehen?«
»Nein, er ist fort!« Unglaubliche Erleichterung. »Was hast du gemacht?«
Raphael schüttelte den Kopf, woraufhin Elenas Erleichterung in sich zusammensackte wie ein geplatzter Luftballon. »Er ist immer noch da, ich habe ihn unter einem ganz schwachen Zauber verborgen.«
»Ich wünschte, Keir wäre hier.« Der Heiler hatte in die Zufluchtsstätte zurückkehren müssen, um sich dort um einige wichtige Dinge zu kümmern. Sie würden ihn erst in Amanat wiedersehen. »Was, wenn …« Sie mochte den Satz nicht beenden, zu schrecklich war das, was ihr auf der Seele lag, zu unvorstellbar.
»Was, wenn es der Vorbote der Krankheit wäre?« Raphael sprach aus, was Elena noch nicht einmal richtig zu denken wagte. »Dann könnte Keir auch nichts unternehmen, warum ihn also informieren? Ich bin ein Erzengel, Elena. Wir werden vielleicht mit zunehmendem Alter verrückt, aber krank werden wir nicht.«
Klare, direkte Worte, die sie zwangen, den nackten, kalten Tatsachen ins Auge zu sehen: Ein kranker Erzengel wäre ein Riss in dem Stoff, aus dem die Welt gemacht war. Aber das hieß noch lange nicht, dass ihr die Ideen ausgegangen wären, so schnell gab Elena nicht auf. »Jessamy!«, sagte sie. »Der kannst du vertrauen, sie würde dich nie verraten. Wir können sie bitten, die Archive durchzugehen und nachzusehen, ob es in der Geschichte der Engel ähnliche Fälle gab.«
»Noch gibt es nichts, was wir ihr sagen könnten.« Wie konnte Raphael nur so ruhig bleiben? »Ein einzelner, dunkler Fleck, mehr nicht. Falls es der Vorbote einer durch eine der neuen Erzengelfähigkeiten erschaffenen Krankheit sein sollte, dann müsste mein Körper eigentlich damit fertig werden.«
»Natürlich: deine Heilkräfte.« Elena spritzte sich mit zitternden Händen Wasser ins Gesicht, vielleicht würde das ihr rasendes Herz beruhigen. Raphael zog sie in seine Arme, hüllte sie in das seidige Gefängnis seiner Flügel.
»Alles ist gut,
Hbeebti
.«
Sie legte ihren Kopf an sein Herz. Das schlug ruhig und beständig unter ihrer
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