Engelslied
sein Blick. Er verstand die Qualen, die sie in Stücke gerissen hatten, als sie stumm an Marguerites Grab stand, Beths winzige Hand fest in der ihren. Einem Fels in der Brandung gleich hatte Jeffrey hinter seinen Töchtern gestanden, seine Hände auf den Schultern der Kinder.
»Ich war so wütend auf ihn, weil er es nicht verhindert, sie nicht aufgehalten hat.« Sie bekam eine verdächtige Konzentration eines bestimmten Dufts in die Nase und ging in die Hocke, wobei ihre Flügel den kalten Asphalt streiften. »Nach der Beerdigung habe ich mich auf ihn gestürzt und ihn angeschrien, es sei alles seine Schuld. Dabei wusste ich genau, dass es nicht so war.« Ihre Mutter hatte Slater Patalis und das, was er ihren zwei ältesten Kindern angetan hatte, nicht verwinden können. Auch wenn sie den eigentlichen Angriff rein körperlich überlebt hatte.
»Du warst ein Kind.«
Elena schüttelte den Kopf. »Ich war alt genug, ich wusste es besser. Aber Jeffrey hat sich nicht gegen meine Anschuldigungen gewehrt. Weil er sich nämlich selbst auch die Schuld gab.«
Seit Jahren hatte sie nicht mehr an jene ersten Tage nach dem Selbstmord ihrer Mutter gedacht. Nur an das, was später gekommen war. Als sich Jeffreys gebrochenes Herz in kalten Zorn verwandelt hatte, als er Marguerite aus seinem Heim und dem Leben verbannte, das er mit seinen überlebenden Töchtern führte. »Jedes Mal, wenn ich ein bisschen mehr verstehe, wer wir sind, Jeffrey und ich, entdecke ich einen neuen Aspekt, und die Sache ist nicht mehr so ein …«
Fauliger Gestank nach Tod, mit einem Unterton von verbranntem Fleisch.
»Hier ist etwas.« Ihre Sinne summten. »Nur schwach. Ich rieche jede einzelne Nuance, trotzdem ist es schwer, genau den Finger darauf zu legen.« Hässlich, übel riechend, unnatürlich. »Wahrscheinlich weil der Geruch von einem Menschen stammt.«
»Kannst du ihn verfolgen?«
»Ja, ich glaube schon«
»Ich halte oben Wache.« Raphael trat ein paar Schritte beiseite, um den Geruch nicht zu verwischen, hob ab und verschwand unter seinem Zauber.
Sich an den einen, schwachen Faden zu hängen und ihn unter den Dutzenden in dieser Gegend zu verfolgen erforderte unendliche Geduld und Genauigkeit.
Blut und Günstig
mochte am Rand des Vampirviertels liegen, wurde anscheinend jedoch gut besucht. Anders als beim letzten Mal drangen aus dem Café zahlreiche Stimmen an Elenas Ohr, als sie um das Haus herumging.
Je weiter sie in das Viertel vordrang, desto quirliger ging es zu. Gerade das Zentrum des alten Stadtteils war bei schicken jungen Vampiren, aber auch bei Besuchern aus den Vorstädten, die es gern mal ein bisschen wilder trieben, ohne sich gleich in die richtig anrüchigen Viertel vorwagen zu wollen, sehr beliebt. Sterbliche und unsterbliche Models mit endlos langen Beinen gehörten hier ebenso zum Straßenbild wie topmodisch gekleidete Vampire auf der Pirsch, und alle drängten sich um die Clubs, die nach Einbruch der Nacht ihre Pforten öffneten.
Elena hatte keine Schwierigkeiten damit, sich durch die Menge zu drängen. Niemand mochte ihr in die Quere kommen.
Trotzdem hielt sie die Flügel dicht an den Körper gepresst und sorgte für gute Sichtbarkeit ihrer Messer. Nicht, dass sie Angst gehabt hätte, von einem der Modevampire angerempelt zu werden! Stöckelschuhe dagegen hätten ihrer Meinung nach ruhig auf der Liste tödlicher Waffen stehen dürfen.
Zehn Minuten minutiöse Spurenarbeit, und sie hatte den Kern des Viertels durchquert. Nun stand sie auf dem Fleischmarkt, vor dem in den meisten Reiseführern gewarnt wurde. Touristen taten gut daran, hier extreme Vorsicht walten zu lassen, denn in dieser Gegend mochten die Vampire ebenso modisch gekleidet und städtisch gewandt sein wie im übrigen Viertel, aber sie waren älter und von dunkleren Gelüsten getrieben. Der Club
Masque
, den Elena gerade von Weitem entdeckte, brachte es schnörkellos auf den Punkt, indem er vor der Schlange der um Einlass anstehenden Menschen ein Schild mit der Aufschrift »Frischfleisch«
angebracht hatte.
Was niemanden abhielt: Die Schlange der Jungen, Sexbesessenen und Dummen war endlos.
Einen Straßenblock weiter wurde es ruhiger. Hier waren sämtliche Läden geschlossen. Bis auf ein einsames Pärchen, das bei Elenas Anblick eilig die Straßenseite wechselte und einen Dealer, der urplötzlich dringend anderswo zu tun hatte, war niemand zu sehen.
Raphael? Ich muss in den Durchgang da drüben.
Vor ihr lag eine Lücke zwischen zwei Häuserzeilen,
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