Engelslied
Wange, seine Arme waren stark wie muskelbepackter Stahl. »Ich habe wirklich nicht vor, dich in der Unsterblichkeit allein zu lassen.«
»Wenn das der Tod ist, Gildejägerin, dann treffe ich dich auf der anderen Seite.«
Das hatte er zu ihr gesagt, als sie sterbend in seinen Armen lag. »Wo immer du hingehst«, flüsterte Elena leise, »da werde auch ich hingehen.« Sie hatte zu viele geliebte Menschen verloren, zu viele geliebte Menschen überlebt. »Ohne dich kann ich nicht weitermachen, ich kann einfach nicht.« Und wieder, als hätte sich der Schlüssel zu einem Albtraum umgedreht, hörte sie das Geräusch, das sie verfolgte, seit Slater Patalis in das Heim ihrer Kindheit eingedrungen war.
Tropf.
Tropf.
Tropf.
So viel Blut – sie war ausgerutscht und mit voller Wucht auf den Boden geschlagen.
»Komm, Elena.« Welche Zärtlichkeit in Raphaels Stimme lag. Er wusste um die Schrecken, die seine Gemahlin gerade wieder durchlebte, er verstand sie. »Hältst du mich denn für so schwach? Das ist ein harter Schlag für mein Ego.«
Elena versuchte sich an einem Lächeln. Sie wollte ja auch nicht, dass die Angst sie von innen verzehrte, aber diese Angst tobte nun einmal seit ihrer Kindheit in ihr, seitdem ihr alle, die sie geliebt hatte, genommen worden waren. Gut, Jeffrey und Beth hatten das Massaker überlebt, aber für Elena waren sie trotzdem verloren gewesen. Nun durfte sie Raphael nicht auch noch verlieren, das würde sie nicht überleben, es ging einfach nicht.
Wie irre rasten die Gedanken in ihrem Kopf herum, bis Elena nur noch aus Panik bestand.
Dann drang der Geruch des Meeres durch die dunklen Wolken der Erinnerung, der Duft von Regen. Sie klammerte sich daran fest, klammerte sich an den Körper und den Geist ihres Geliebten, versenkte sich ganz und gar in die reine, mächtige Lebenskraft des Erzengels, des einzigen Mannes, den sie je geliebt hatte.
Raphael hielt Elena in seinen Armen, bis sie vor lauter Erschöpfung eingeschlafen war. Auch danach noch blieb er bei ihr, mochte sie nicht allein lassen, seine starke Gemahlin mit der tiefen, immer noch schmerzenden Wunde im Innern, die heute Nacht wieder einmal aufgerissen war. Raphael wachte über sie, hielt sie fest, damit ihr die Dunkelheit nichts anhaben konnte. Und als er zu träumen begann, wurde ihm klar, dass auch er eingeschlafen war.
Er träumte von dem verlassenen Feld, von den mit seinem Blut getränkten Grashalmen, die wie kostbare Rubine in der Sonne glitzerten und Vögel anlockten, die zu seinen ständigen Gefährten wurden, während die Sonne über den Himmel wanderte und aus Frühling Sommer wurde. Blumen erblühten rings um ihn her, Grashalme warfen Schatten auf sein Gesicht. Und immer noch lag er dort, wartete darauf, zu heilen, wieder stark genug zu sein, um den Weg zurück in die Zufluchtsstätte zu schaffen.
Erzengel. Erzengel. Erzengel.
Flüsternde Stimmen um ihn herum, die immer nur dies eine Wort wiederholten, bis er ihnen zu schweigen befahl. In einem Ton, dem außer Elena nie jemand den Gehorsam verweigert hatte.
Auch die Stimmen gehorchten ihm: Sie verstummten.
Woraufhin sich Raphael von dem Feld erhob, was ihm mühelos gelang, denn sein Körper war der eines gesunden Erwachsenen, sämtliche Spuren des verstörten, leidenden Kindes verwischt. Und so erteilte er seinen zweiten Befehl: »Zeigt euch!«
19
Als Antwort erhob sich ein Meer von Flüsterstimmen. Jedoch die Worte waren unverständlich.
»Raphael.«
Die Frauenstimme drängte sich unerwartet in seinen Traum. Er kannte sie, sie war ihm so vertraut, dass er sie sogar im Tod wiedererkannt hätte. Wie auch den Flügel, der über die seinen strich wie der eines Kriegers, lebhaftes Indigo mit einem Hauch Mitternachtsblau und der verwirrenden Farbe des Himmels kurz vor dem Sonnenaufgang.
Er wandte sich der Stimme zu: Neben ihm stand Elena, aber ihr Körper war durchsichtig, ihre Farben wie fließendes Wasser. Todesrubine zierten ihren Hals, kirschdunkle, aus seinem gehärteten Blut geschaffene Juwelen.
So etwas würde Elena nie tragen, das war falsch.
»Was zum …« Schaudernd griff sie sich an die Kehle und zerriss die Kette. Lautlos fielen die Blutjuwelen hinunter ins grüne, grüne Gras. »Wo sind wir hier?«
»Auf dem Feld, auf dem ich gegen meine Mutter kämpfte.« Als er nach ihrer Hand griff, fühlte sie sich warm an, auch wenn Elena selbst weiterhin aus Glas zu bestehen schien.
»Es ist schön.«
Zum ersten Mal sah er das Feld mit den Augen eines
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