Engelslied
anderen, den Sonnenaufgang, der seine Farben im üppigen Gras spielen ließ, die Bäume in goldenen Schimmer tauchte und die Blumen, die er hatte wachsen sehen, zum Leuchten brachte. Elena hatte recht, der Anblick war schön. Aber für ihn würde dies hier immer ein Ort des Schmerzes, des Todes, des Verlustes sein.
»Meine Mutter ist fortgegangen, ihre Füße haben die Blumen zerdrückt, während die Insekten an meinem Blut leckten.« Die winzigen Wesen waren gestorben, sein Blut war zu reichhaltig gewesen. Dann waren die Vögel gekommen, neugierig auf das geflügelte Wesen dort auf dem Boden. »Die Vögel saßen stundenlang bei mir, brachten mir Beeren, als sei ich ein aus dem Nest gefallenes, noch nicht ganz flügges Junges.« Das war schön gewesen. Wie hatte er es nur vergessen können! Warum erinnerte er sich nur an alles Schreckliche? »Tagelang konnte ich nichts essen, mein Kiefer war zerschmettert. Sämtliche Knochen in meinem Gesicht ebenfalls.«
»Dies ist ein schöner, aber auch sehr trauriger Ort.« Eine einzelne Träne rann seiner Gemahlin die Wange hinunter. »Du solltest jetzt aufwachen.«
Gehorsam öffnete Raphael die Augen. Hinter dem Oberlicht über ihrem Bett erstrahlte der Himmel im Glanz der Sterne, aber er wollte jetzt keinen Himmel, keine Sterne sehen. Sacht drehte er sich um, wischte die Träne ab, die Elenas goldene Haut benetzt hatte. Seine Gemahlin lag mit weit offenen Augen neben ihm. So jung als Engel, und doch hatte sie sich in den Traum eines Erzengels drängen können – eigentlich hätte er überrascht sein müssen. Aber Elena war kein gewöhnlicher Engel, sie war seine Jägerin. Sie hatte noch nie getan, was von ihr erwartet wurde.
»Du warst in meinem Traum.«
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, breitete ihren Flügel über ihn. Als wollte sie ihn beschützen. »Was ich dort mit dir zusammen sah, war traurig und schrecklich und wunderschön.«
»Wie an dem Tag, als ich gegen meine Mutter kämpfte: traurig und schrecklich … und wunderschön. Sie hat mir oben am Himmel etwas vorgesungen, habe ich dir je davon erzählt?«
Elena schüttelte den Kopf. Unter seiner Hand knisterte ihr wildes Haar wie Seide.
»Ihre Stimme ist Geschenk und Waffe zugleich, ein absolut reiner Klang, der Herzen brechen, aber auch heilen kann.« Er hatte Engel mit Tränen in den Augen auf die Knie fallen sehen, wenn Caliane sang. »An jenem Tag sang sie ein Lied, das sie mir in meiner Kindheit oft vorgesungen hatte, und ich hätte beinahe vergessen, warum ich sie überhaupt verfolgte.«
Weil er in diesem einen, unvergessenen Moment nicht das Monster gesehen hatte, zu dem Caliane geworden war, sondern die Mutter, die ihn als Kind mit ihren Küssen immer getröstet hatte. »Der Himmel selbst riss auf vor Staunen – und riss dann unter dem Einfluss ihrer Macht noch weiter auf.« Die Kräfte waren von Anfang an ungleich verteilt gewesen bei diesem Kampf eines noch nicht ganz erwachsenen Kindes gegen eine Uralte.
Elena drückte ihm die Lippen auf die Schulter, warm wie ein Kuss ruhte ihr Körper an seinem. »Hast du die flüsternden Stimmen aus deinem Traum auch während der Schlacht gegen deine Mutter gehört?«
»Nein. Da war ich mit Caliane allein.« Hinterher dann nur noch allein.
»Zu wem diese Stimmen wohl gehören mögen?«
Er bestand nicht darauf, dass alles doch nur ein Traum gewesen war. Wie hätte er das auch tun können, spürte er das Seltsame, Fremde dieses Erlebnisses doch immer noch lebhaft in sich. »Schlaf, Elena. Wir haben eine lange Reise vor uns.«
Sie schwieg, schlief aber nicht, das spürte Raphael deutlich. Als die Morgendämmerung den Horizont berührte, lag sie immer noch wach da. Er wusste auch, warum, wusste, dass sie weiterhin mit der Angst rang, die er in ihren Augen gesehen hatte, als sie im Badezimmer versuchte, ihm den Fleck von der Schläfe zu reiben. Als dieser Fleck nicht verschwinden wollte … Wie viel ihr diese Angst abverlangte, zu viel, schrecklich viel. Aber sie sagte auch eine Menge über das aus, was er ihr bedeutete – und das war wunderbar.
Irgendwann war Elena dann doch noch eingeschlafen. Ihr erster Gedanke beim Aufwachen galt dem Fleck an Raphaels Schläfe, und sofort nagte wieder dumpf die Furcht an ihrem Herzen. Sie drängte das hässliche Gefühl weit nach hinten, in eine winzige Ecke ihres Bewusstseins, wo es sie nicht stören würde, und konzentrierte sich darauf, im Geist eine Liste von Raphaels Stärken zusammenzustellen. Unter anderem
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