Engelslied
hatte ihr Gemahl einen Erzengel exekutiert, der Jahrtausende älter gewesen war als er selbst. Und er hatte, verdammt noch mal, einen Engel erschaffen! So schnell würde ihn keine Krankheit dahinraffen!
»Schreib dir das hinter die Ohren, Elena!«, murmelte sie vor sich hin, als sie neben ihrem Erzengel in der luxuriösen Kabine von Raphaels Privatjet saß. So schnell würden Raphael keine Krankheiten dahinraffen – dieser Glaube sollte in Zukunft ihr Schutzschild sein. Sollte sie davor bewahren, sich wieder in die Zehnjährige zurückzuverwandeln, die sie einmal gewesen war, verstört und blutbespritzt und allein mit einem Monster.
»Hast du etwas gesagt,
Hbeebti
?«
Eine sanfte, liebevolle Frage – Raphael ging schon den ganzen Morgen sehr vorsichtig mit ihr um. Und wer mochte es ihm nach ihrem Ausflippen letzte Nacht auch verdenken? Aber langsam wurde es Zeit, ihren Erzengel wissen zu lassen, dass sie ihre Wunden versorgt hatte. »Wenn ich in dies Ding hier steige«, sagte sie, »werde ich jedes Mal daran erinnert, wie unverschämt reich du bist.« Raphael hätte den Flug problemlos auf eigenen Schwingen bewältigen können, aber sie war dazu leider immer noch zu schwach, es fehlte ihr in der Luft an der nötigen Ausdauer. »Als flöge man in einer Miniaturausgabe des Turms!«
Er warf ihr einen belustigten Blick zu. Von der schrecklichen Traurigkeit, die sie dort über dem Feld, auf dem er einst zerschmettert und blutüberströmt gelegen hatte, gespürt hatte, war keine Spur mehr zu entdecken. »Soll ich das für dich durchgehen?« Er deutete mit dem Kinn auf den Aktenordner auf ihrem Schoß, der Marcia Blues Finanzübersicht und ihren Geschäftsplan enthielt.
Erleichtert reichte sie den Ordner weiter. Sie verstand den Inhalt nur zur Hälfte, was sie gern zugab. »Auch ich bin auf dem besten Weg, unverschämt reich zu werden.«
»Bei deinem weichen Herzen werde ich wohl eher alle Hebel in Bewegung setzen müssen, damit du nicht irgendwann ohne einen Cent auf der Straße stehst.« Raphael schlug den Ordner auf.
Mit einem wohligen Seufzer machte es sich Elena auf ihrem wunderbar bequemen Sitz gemütlich. »Dann hatte ich eben Mitleid mit ihr. Aber ich habe sie um ihre Geschäftsunterlagen gebeten! Das ist doch immerhin schon etwas.«
»Hm.«
Sie überließ ihn den Dokumenten, schloss ihr Handy ans Kommunikationssystem des Jets an und unterhielt sich eine Weile mit Sam, dem witzigen kleinen Jungen, der ihr in der Zufluchtsstätte zum Freund und Führer geworden war. Sam plauderte munter über seine neuesten Abenteuer, und sie musste ihm versprechen, ihm einen Platz in ihrer Leibgarde freizuhalten, bis er alt genug dafür war. Dann zeigte er ihr per Webcam das Geschenk für seine Mutter, an dem er gerade heimlich bastelte.
»Sam?«, erkundigte sich Elena neugierig, ehe sie die Unterhaltung beendete. »Bringt Galen euch wirklich Flugtechniken bei?«
»Natürlich!« Ein energisches Nicken. »Er ist streng, aber nicht gemein. Wir mögen ihn.« Grinsend berichtete der Kleine von seiner letzten Stunde bei Raphaels Waffenmeister, an deren Ende der strenge Galen sogar über den Einfallsreichtum seiner Babyschwadron hatte lachen müssen.
Nachdenklich geworden, legte Elena auf. Anscheinend hatte sie bisher wirklich nur einen Aspekt von Galens Persönlichkeit zu Gesicht bekommen. »Dein Waffenmeister scheint ja doch ein Herz zu haben, und offensichtlich schlägt es sogar«, sagte sie zu Raphael. »Wer hätte das gedacht?«
»Jessamy.«
»Okay – da magst du recht haben.« Da Raphael weiterhin mit dem Ordner zu tun zu haben schien, loggte sie sich ein, um ihre E-Mails abzurufen. Sara hatte geschrieben: Sie wollte hören, was Elena von einer antiken Waffe hielt, die sie Deacon zum Hochzeitstag schenken wollte.
Sie hatte ihre Antwort gerade abgeschickt, als im Posteingang eine neue Mail auftauchte. Sie kam von Aodhan, und beim Lesen der Betreffzeile klammerten sich Elenas Finger um das Handy, und die Erinnerung an einen Tag vor zwei Monaten stürmte auf sie ein.
Elenas Hand zitterte, sie musste schlucken. Mein Gott, wie nervös sie war! Hier vor dem Fahrstuhl, der sie in die Katakomben unterhalb des Gildehauptquartiers bringen sollte, war es fast totenstill, nur das Knistern des Papiers in ihren zittrigen Fingern war zu hören. Dort unten, an diesem sicheren Ort der Jäger, hatte sie sich versteckt, nachdem sie Dmitri damals im Laufe der Jagd, die ihr Leben von Grund auf verändern sollte, die Kehle
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