Engelslied
durchgeschnitten hatte. Nicht unprovoziert, das musste zu ihrer Verteidigung gesagt werden, aber doch ein ziemlich drastischer Akt.
Von Vivek, der für die Räume hier unten verantwortlich war, hatte sie damals die Pistole erhalten, mit der sich Engel verwunden ließen. Nicht dauerhaft, aber doch so, dass ein Mensch die Chance hatte, wegzulaufen. In ihrer Hand hatte diese Pistole allerdings weit größeren Schaden angerichtet, der verwundete Raphael hatte in einem See aus Blut auf den Glasscherben der Außenwand ihrer alten Wohnung gelegen.
»Mach schon, Ellie!«, tadelte sie sich leise. Diese Reise in die Vergangenheit war doch nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver, heute ging es um ganz etwas anderes.
Entschlossen streckte sie die Hand nach dem Fahrstuhlknopf aus, und als sich die Türen öffneten, gab sie den Geheimcode in das nur Eingeweihten vertraute Display ein. Jetzt würde der kleine Käfig nach unten fahren, nicht hoch in die Räume des Hauptquartiers. Der Code wurde täglich geändert, sie hatte ihn direkt von Vivek erhalten. Der Freund erwartete sie.
»Klar darfst du kommen, ich werde dir gründlich den Hintern versohlen!« Er dachte, es ginge ihr auch heute um das unendliche Scrabbleturnier, das die beiden miteinander austrugen.
Sie hatten auch früher schon immer mal Zeit für ein, zwei Spiele gefunden, wenn Elena sich länger in der Stadt aufgehalten hatte, und jetzt, da sie dauerhaft in New York stationiert war, schaute sie mindestens einmal die Woche hier vorbei. Zu ihr mochte Vivek nicht kommen, obwohl das durchaus möglich gewesen wäre, denn sein Rollstuhl war technisch gesehen vom Feinsten, aber Vivek war ein geborener Jäger und fand es schwer, draußen auf der Straße zu sein, ohne seine speziellen Fähigkeiten einsetzen zu können. Es lagen einfach zu viele Vampirgerüche in der Luft, die an seinen Sinnen zerrten. Er fühlte sich jedes Mal hinterher wie ausgeblutet.
Elena stieg aus dem Fahrstuhl in die stockdunklen Gänge unter dem Hauptquartier, in denen sie sich inzwischen auch wieder ohne die kleine Taschenlampe zurechtfand, die sie immer in einer der Taschen ihrer Cargohose bei sich trug. Nach ihrer Rückkehr hatte es ein wenig gedauert, bis sie einen auch für Flügel geeigneten Durchgang gefunden hatte, aber inzwischen bewegte sie sich voller Selbstvertrauen in der Dunkelheit und wich den dicken Säulen, die das Fundament des Hauses bildeten, geschickt aus.
Vor der mit zerkratzten, mit Graffiti beschmierten Metalltür, die Eindringlinge, die sich bis hier vorgewagt hatten, endgültig abschrecken sollte, widmete sie sich erneut einer verborgenen Tastatur und hielt ihr Auge vor den entsprechenden Scanner. Wenige Sekunden später glitt die Tür zur Seite und Elena fand sich in einer Metallkabine wieder, wo weitere Überwachungsapparaturen sie von oben bis unten durchsuchten und notierten, welche Waffen sie mit sich führte.
Vivek, der ständig Neuerungen einführte, hatte gelacht, als ihn Ellie nach ihrem ersten Durchlauf in dieser Kammer nach den Gründen für ihren Einbau fragte. »Ist doch klar: Wenn es sich herausstellt, dass du doch keiner von den Guten bist, kann ich dich gleich an Ort und Stelle unter Gas setzen, und dann heißt es: ›Tschüss, böse Elena.‹«
Elena hatte ebenfalls gelacht. Aber gleichzeitig war ihr durch den Kopf gegangen, wie sehr sie doch alle Vivek vertrauten, sich auf seine Arbeit hier unten verließen. Kleinlich mochte er manchmal sein, ihr Vivek, aber er war der Gilde loyal ergeben.
Die Tür ging auf, sie war aus der Stahlkammer entlassen. Das lief nicht automatisch so: Wer hier unten kam und ging, das bestimmte allein Vivek höchstpersönlich.
»Ohayo, Vivek«, verkündete sie in die Luft hinein.
»Gozaimasu, Elena.« Kurze Pause. »Ernsthaft? Das war so einfach, das hätte ja selbst Ransom kapiert.«
»Ich werde es ihm ausrichten.« Geduldig wartete sie den Abschluss des zweiten Scans ab. Welche neuen Tricks mochte Vivek heute sonst noch auf Lager haben? Lauerten in den Wänden inzwischen automatische Schießanlagen? Zuzutrauen wäre es ihm.
»Hey! Ich glaube, ich sollte deine Identität sicherheitshalber gleich noch mal überprüfen!« Viveks Stimme kam laut und widerhallend aus einem Lautsprecher, den Elena nicht sehen konnte. »Was ist los? Sonst beklagst du dich zwei Sekunden nach deiner Ankunft schon darüber, wie lange der Scan dauert.«
Elenas Finger kneteten weiterhin das Papier in ihrer Hand, obwohl es schon so zerknüllt war,
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