Engelslieder
vielleicht elf oder zwölf. Kein Kind mehr, aber auch noch kein richtiger Teenager, glaube ich.”
“Wow, das ist echt irre. Und du glaubst immer noch, dass diese Träume etwas zu bedeuten haben?”
“Wahrscheinlich bin ich verrückt, aber ja. Womöglich ist die kleine Molly in das Auto eingestiegen, und der Mann ist mit ihr weggefahren, so wie im Traum. Aber er hat sie nicht umgebracht – das ist unmöglich, wenn sie in dem zweiten Traum älter ist. Ich glaube, er hat sie vielleicht einfach irgendwohin verschleppt.”
“Vielleicht träumst du ja weiter von ihr, bis sie erwachsen ist, und alles ist gut.”
“Daran habe ich auch schon gedacht. Natürlich ist das möglich, aber …”
“Aber was?”
“Aber ich glaube nicht, dass das geschehen wird. Ich glaube … ich weiß auch nicht, aber ich glaube, Molly versucht verzweifelt mir eine Art Botschaft zu übermitteln. Ich glaube, sie bittet mich um Hilfe.”
Terri taxierte sie. “Das ist ziemlich weit hergeholt, findest du nicht? Wenn sie tatsächlich versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen, wieso hat sie dann so lange gewartet? Warum hat sie dir diese angebliche Botschaft nicht schon vor fünf oder sechs Jahren geschickt?”
Autumn strich sich eine Locke hinters Ohr. “Ich weiß es nicht.”
“Du musst zugeben, dass das alles ziemlich verrückt klingt.”
“Ohne Zweifel.” Mit den Fingern fuhr sie an den feinen Wasserperlen entlang, die sich durch den kalten Wein an ihrem Glas gebildet hatten. “Wenn damals nicht die Sache an der Highschool passiert wäre, würde ich dem gesamten Mist gar keine Beachtung schenken.”
Terri runzelte die Stirn. “Der Autounfall … oder? Ich verstehe, was du meinst.”
“Das Verrückte ist – warum ist es damals geschehen? Und wieso geschieht es jetzt?”
Da keine von beiden eine Antwort wusste, ignorierte Terri die Frage. “Weißt du, was du meiner Meinung nach tun solltest? Sieh doch mal in den alten Zeitungen nach, ob vor fünf oder sechs Jahren ein kleines Mädchen entführt wurde. Falls ja und wenn es Molly hieß …”
“Das ist es!” Autumn straffte die Schultern. “Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Ich muss nur ein paar Variablen offen lassen. Vielleicht habe ich ihr Alter falsch geschätzt, also muss ich eine größere Zeitspanne in meine Suche einbeziehen. Vermutlich stehe ich in irgendeiner Verbindung zu ihr, sonst würde das alles nicht geschehen. Ich werde mit der Suche also hier in Seattle beginnen.”
“Auch wenn es nicht funktionieren sollte, verlieren kannst du ja nichts.”
“Eine hervorragende Idee.” Falls Autumn mit ihrer Ahnung richtig lag, war es auf jeden Fall einen Versuch wert.
In dem Moment blickte Terri auf und fing an zu lächeln. “Todd ist gerade hereingekommen. Ist er nicht umwerfend?”
Todd war definitiv ein gut aussehender Kerl, groß und blond, ein Brad-Pitt-Verschnitt. Aber Autumn zweifelte daran, dass hinter der hübschen Fassade noch mehr steckte.
Terri stellte sie einander vor, und die drei plauderten eine Weile. Todd hielt der Prüfung stand. Er schien höflich und intelligent zu sein. Doch für ein endgültiges Urteil war es noch zu früh.
Autumn stand auf. “Hört mal, ich muss los. Ich muss morgen früh einen Kurs geben. War schön, dich kennenzulernen, Todd.”
“Finde ich auch, Autumn.”
Terri warf ihr einen vielsagenden Blick zu. “Halt mich wegen deiner … Recherche auf dem Laufenden, ja?”
“Wird gemacht.” Autumn verließ die Bar und machte sich auf den Heimweg. Die Sonne versank gerade im Wasser, und zwischen den Gebäuden konnte man einen Blick aufs Meer erhaschen. Doch der schöne Schein trog – die Gegend, in der sie lebte, war nicht die beste. Durchreisende bevölkerten die nahe gelegene Bushaltestelle, und auf der Straße wurde mit Drogen gedealt, aber die Wohnung war erschwinglich gewesen und lag nur wenige Blocks von Museen und Theatern entfernt. Außerdem wandelte sich die Innenstadt zusehends zum Besseren. Autumn liebte Seattle. Nirgendwo sonst wollte sie lieber leben.
Als sie ihren Apartmentkomplex erreichte und mit dem Fahrstuhl in den zwölften Stock fuhr, legte sich die Dämmerung über die Stadt. Sie grillte ein Schweinekotelett auf einem Rost, weil es sich so fettärmer zubereiten ließ, und setzte sich vor den Fernseher. Die Sitcoms waren immer recht unterhaltsam. Nachdem sie sich ein paar angesehen hatte, begann sie zu gähnen und ging ins Bett.
Sie nahm diesmal bewusst keine Schlaftablette, da sie
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