Engelslieder
hoffte, ein Traum würde ihr weitere Informationen liefern – auch wenn die Vorstellung von tiefem und erholsamem Schlaf sehr verlockend war.
Schon bald schlummerte sie ein und hatte wieder den Traum.
Von ihrer Wohnung bis zur
Seattle Times
in der John Street war es ein ordentlicher Fußmarsch, und so beschloss Autumn, dort anzurufen, ehe sie aufbrach. Die Empfangsdame bei der Times teilte ihr mit, dass sich das Archiv nicht im Gebäude des Zeitungsverlags, sondern in der Zentralbibliothek befand. Nach einem weiteren Telefonat stellte sich heraus, dass diese in der nahe gelegenen Forth Avenue lag. Man sagte ihr, sie finde dort Zeitungsausgaben, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückgingen.
Im Raum Seattle gab es diverse Tageszeitungen, doch die Times war die größte.
Wenn
in der Stadt oder der näheren Umgebung ein Kind entführt worden ist, dachte Autumn sich, hat die
Seattle Times
mit Sicherheit darüber berichtet.
Ihr kam der Gedanke, dass sie für gewöhnlich die Nachrichten verfolgte, sei es in der Zeitung oder im Fernsehen, also hätte sie es eigentlich mitbekommen müssen, wenn in der Nähe etwas Derartiges geschehen war. Andererseits reiste sie, sooft es ging. Es war gut möglich, dass sie nicht in der Stadt gewesen oder es einfach an ihr vorbeigegangen war.
Die Dame am Informationsschalter kam an den Counter. Sie hatte silbergraues Haar, das Gesicht war zu stark gepudert, und auf den Wangen klebten zwei rosa Rougeflecken.
“Kann ich Ihnen weiterhelfen?”
“Ich würde mich gern in Ihrem Zeitungsarchiv umsehen. Ich bin auf der Suche nach Kindern, die eventuell als vermisst gemeldet wurden. Und zwar während der letzten sieben Jahre.” Zwar kannte sie Mollys genaues Alter nicht, aber dieser Zeitrahmen musste eigentlich groß genug sein.
“Sicher. Folgen Sie mir bitte.”
Autumn ging hinter der älteren Dame her in ein Hinterzimmer voller Apparaturen.
“Alles, was weiter zurückliegt, ist auf Mikrofilm gespeichert. Darauf finden Sie Kopien aller gedruckten Zeitungen sowie eine alphabetische Liste der Themen. Geben Sie einfach ‘vermisste Kinder’ ein, dann müssten Sie die gewünschten Informationen erhalten.”
“Vielen Dank.”
Autumn setzte sich und machte sich an die Arbeit. Sie ging fünf Jahre zurück, falls Molly damals sechs und heute elf war. Auch Autumn hatte zu jener Zeit bereits in Seattle gelebt, und vermutlich hatte sie sie während dieser Zeit irgendwo gesehen.
Sie fand haufenweise Artikel. Doch leider schien nichts auch nur im Entferntesten mit einem kleinen Mädchen namens Molly zu tun zu haben. Es gab viele Berichte über Kinder, die als vermisst gemeldet und wieder gefunden worden waren. Eins war in den Bergen verschollen und von örtlichen Suchtrupps gerettet worden.
Sie versuchte es mit den Zeitungen von vor vier Jahren und fand einen Bericht über einen Pädophilen namens Gerald Meeks, der wegen sexueller Belästigung und Mordes an mehreren Kleinkindern verurteilt worden war, doch Mollys Name tauchte – Gott sei Dank – nicht auf.
Dann ging sie ins Jahr 2001 – demnach wäre das Kind damals sechs gewesen und heute zwölf. Autumns stärkste Vermutung. Sie blätterte durch die Sommerausgaben und las hier und da ein paar Wortfetzen, als sie plötzlich den Artikel sah. Die Schlagzeile lautete:
Mädchen aus Issaquah vermisst
. Die Zeitung war vom 30. Juni 2001, und das Mädchen war einen Tag vor Erscheinen der Zeitung verschwunden.
Gestern verschwand am späten Nachmittag ein sechsjähriges Mädchen aus dem elterlichen Garten
, stand in dem Bericht.
Laut Zeugenaussagen spielte das Kind mit Freunden Ball, als ein unbekannter Mann auf dem Gehweg auftauchte.
Der Artikel beschrieb die weiteren Geschehnisse sowie das vermisste Mädchen: lange blonde Haare, blaue Augen, trug Jeans, Turnschuhe und ein lila T-Shirt mit einem Aufdruck von Barney, dem Dinosaurier.
Auch ein Foto war abgedruckt. Autumn erkannte sie auf den ersten Blick. Unter dem Bild stand ein Name:
Molly Lynn McKenzie
.
Autumn verkrampfte sich so sehr, dass sie Schwierigkeiten hatte zu atmen. Ihr Herz schlug wie verrückt, als wollte es aus ihrer Brust herausspringen.
Das Kind existierte wirklich. Der Traum war echt. Die Entführung hatte sich tatsächlich ereignet.
Autumn wurde schummrig. Sie sah sich noch einmal das Datum an. Jenen Sommer hatte sie bei ihrem Dad in Burlington verbracht, bevor sie die Lehrstelle in Seattle angetreten hatte. Vermutlich hätte sie den Artikel trotzdem gelesen, da er
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