Engelslieder
wie Eli sie in letzter Zeit ansah. Das fühlte sich komisch an. Jahrelang hatte er sie ignoriert, außer um ihr Arbeiten aufzutragen und sie für Fehler zu bestrafen. Aber jetzt, da sie älter war, hatte sich alles verändert. Sein Blick schien ihr überallhin zu folgen. Er starrte sie an, als besäße sie etwas, das er haben wollte. Und sobald sie seine Hütte erreichten, würde es noch schlimmer werden.
Ruth wusste von der heiligen Stätte. Sarah und Eli hatten dort vor zwei Jahren geheiratet, als Sarah dreizehn wurde.
Jetzt wollte er sie heiraten. Dann wäre sie nicht länger seine Schutzbefohlene, so wie in den vergangenen sechs Jahren. Heute, an ihrem Geburtstag, würde sie Elis Frau werden.
Ihr Magen verkrampfte sich. Sie wünschte, ihr Geburtstag würde niemals kommen. Sie wusste nicht genau, woher Eli den Tag kannte. Vielleicht hatte sie ihm als kleines Mädchen davon erzählt, als sie sich an solche Dinge noch erinnerte. Oder vielleicht wusste er es einfach. Er sagte, er habe ihre Eltern gekannt. Er hatte ihr erzählt, dass sie ihn an jenem Tag, als sie in sein Auto gestiegen war, zu sich nach Hause bestellt hätten. Sie baten ihn, sich um sie zu kümmern, weil sie sie nicht mehr wollten.
Ruth erinnerte sich kaum noch an jenen Tag oder an die Eltern, die sie einmal geliebt hatte, sie erinnerte sich an fast gar nichts mehr, was vor Eli und Rachael und ihrem Zuhause in den Bergen gewesen war. Sie wusste, dass sie nicht seine Tochter war. Das hatte er immer klargestellt. Sie vermutete, dass die Sache mit ihren Eltern stimmte. Dass sie sie tatsächlich nicht mehr gewollt hatten. Immerhin lebte sie immer noch bei Eli und Rachael, und ihre echten Eltern waren nie gekommen, um sie zu holen.
Jahrelang hatte sie gebetet, sie mögen kommen. Zuerst konnte sie sich sogar noch an ihre Gesichter erinnern, aber Eli sagte ihr, sie müsse sie vergessen. Er sei nun ihre Familie, er und Rachael.
Dann war Sarah gekommen. Ruth hatte Sarah von dem Moment an geliebt, als sie das Haus betreten hatte. Sie war immer so lieb und lächelte viel, zumindest wenn Eli nicht in der Nähe war. Sie sei seine Zweitfrau, sagte sie. Einmal erzählte Sarah ihr, dass sie Eli nicht hatte heiraten wollen, aber ihr Vater und ihre Mutter hatten gesagt, dass es das Richtige sei. Dass das Oberhaupt ihrer Kirche, Samuel Beecher, mit Gott gesprochen habe und dass dieser befohlen habe, Sarah solle seinen Sohn heiraten. Also tat sie es.
Jetzt war Sarah schwanger. Ruth wusste nicht genau, wie das geschehen war. Es war ein verbotenes Thema in ihrem Haus. Sie wusste nur, dass es irgendwie damit zusammenhing, wenn man mit Eli in einem Bett schlief.
Sarah hatte versucht, ihr die Pflichten einer Ehefrau zu erklären, wie sie mit Eli schlafen und zulassen musste, dass er sie anfasste, aber er hatte ihr Gespräch mitbekommen und war wütend geworden. Er hatte Sarah ausgepeitscht, weil sie über persönliche Angelegenheiten gesprochen hatte, und Sarah hatte geweint.
Ruth hatte auch geweint. Sie wollte Eli nicht heiraten. Sie wollte niemanden heiraten, auch wenn es ihr nichts ausmachen würde, ein Baby zu bekommen. Nicht, dass ihr die Vorstellung gefiel, dick zu sein. Aber ein Baby zu haben, das man knuddeln und für das man sorgen konnte, ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen zu haben – das klang gut in Ruths Ohren.
Seit sie in den Bergen war, konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals einen Menschen außer Sarah geliebt zu haben. Irgendwie hoffte sie, sie und das kleine Mädchen, das Eli vor einigen Wochen mitgebracht hatte, würden Freundinnen werden. Aber Mary war so verängstigt, dass sie sich immer abkapselte. Ruth fragte sich, ob sie genauso scheu gewesen war wie Mary, als sie in das Haus gekommen war.
“Beeil dich, Mädchen. Und pass auf, wo du hintrittst. Du willst dir hier oben doch kein Bein brechen, oder?”
Einen Augenblick lang dachte Ruth, das sei gar keine schlechte Idee. Wenn sie die heilige Stätte nicht erreichte, könnte Eli sie nicht heiraten. Er könnte sie nicht anfassen und Dinge mit ihr machen, die sie sich gar nicht erst vorstellen mochte.
“Ich habe gesagt, du sollst deinen dürren Hintern da hoch bewegen. Wir haben noch ein gutes Stück vor uns, und wir wollen die Hütte doch vor der Dämmerung erreichen.”
“Ja, Sir”, erwiderte Ruth. “Ich komme.”
Doch sie betete, dass sie die Hütte niemals erreichten.
Autumn positionierte ein Klemmgerät in einen engen Spalt, befestigte einen Karabiner daran und
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