Engelslieder
sagte.
“Bist du so weit?”, rief sie zu ihm herunter, und er merkte, dass sie das obere Ende der Steigung erreicht hatte.
Er winkte und rief zurück: “Bin bereit!” Dann nahm er die Route in Angriff, die sie für ihn vorbereitet hatte.
Merkwürdigerweise war die Tour trotz der ernsten Situation und trotz aller Sorge um Molly der pure Nervenkitzel. Manchmal ertappte Ben sich dabei, wie er aus mehr als dreihundert Metern Höhe an einem Granitfelsen hängend auf die Welt hinabsah. Die Aussicht war grandios und mit nichts auf dem Erdboden zu vergleichen. In der Ferne ragten zerklüftete, raue Gipfel in den Himmel, einige waren noch immer mit Schnee bedeckt. Tiefgrüne, bewaldete Täler, die von dünnen Wasserbändern zerteilt wurden wie von glänzenden Seidenfäden, breiteten sich unter ihm aus.
Es war traumhaft schön. Nur dass ihnen die kostbare Zeit davonrannte, während sie sich auf zermürbende Weise Zentimeter für Zentimeter ihren Weg zum Gipfel des Angel’s Peak bahnten, gefiel ihm nicht.
Die Stunden vergingen wie in Zeitraffer. Sobald sie oben angekommen wären, müssten sie immer noch die Blockhütte ausfindig machen – und beten, dass Eli Beecher nicht vor ihnen angekommen war.
Burt Riker stand neben Doug Watkins im Vordergarten des Beecher-Hauses. Es war fast Mittag.
Vergangene Nacht waren Rachael und Sarah in Schutzhaft genommen worden. Die kleine Ginny Purcell musste mittlerweile wieder bei ihren Eltern sein, die am Morgen für ein tränenreiches Wiedersehen nach Seattle geflogen waren. Das Mädchen war von seinem Entführer seelisch missbraucht worden, doch es hatte weder sexuelle noch körperliche Drangsal erleiden müssen. Ginny war wieder bei ihren Eltern, und mit der Zeit würde das Trauma der Entführung verblassen.
Es war schön, wenn die Guten gewannen.
Riker lächelte innerlich. Die Purcells mussten Autumn Sommers und Ben McKenzie dafür danken, dass sie ihre Tochter wiederhatten.
Und vielleicht gebührte ein kleiner Teil des Dankes dem stämmigen Detective mit dem kahl rasierten Kopf, der etwas riskiert und ihnen geholfen hatte. Doug Watkins war zum Tatort gekommen, da er vor sechs Jahren an dem Entführungsfall Molly McKenzie gearbeitet und Informationen hatte, die ihnen in der augenblicklichen Situation weiterhelfen konnten.
“Lassen Sie mich das noch mal wiederholen”, führte Riker ihre Unterhaltung fort. “Sie sagen, diese Sommers hat McKenzie mit ihren Träumen geholfen, Eli Beecher ausfindig zu machen – habe ich das richtig verstanden?”
Offensichtlich sprach der Mann nicht gern über das Thema. Von Gesprächsbeginn an hatte er den Eindruck erweckt, als fühle er sich nicht wohl in seiner Haut. “Den Anschein hat es, ja. Offenbar ist ihr die Sache mit den Träumen schon mal passiert, als sie noch zur Highschool ging. Als das Gleiche wieder losging, suchte sie McKenzie auf und überzeugte ihn schließlich davon, die Suche nach seiner Tochter wieder aufzunehmen.”
Riker grunzte. Er hatte schon einmal mit einem Medium gearbeitet und Glück dabei gehabt, aber im Vergleich hierzu war das nicht der Rede wert. “Nun ja, es hat sie bis hierher gebracht, also wird schon irgendetwas an der Sache dran sein.”
Watkins machte den Anschein, als würde er gern das Thema wechseln, und Riker tat ihm den Gefallen. “Wann wird Ihr Team an der Blockhütte ankommen?”
“Das Bodenteam? Nicht vor morgen, frühestens. Aber wir schicken noch einen Helikopter hinauf. Die Männer werden nach einem Platz suchen, wo er landen oder ein zweites Team ablassen kann. Irgendwo, von wo aus man schneller zur Hütte gelangt.”
Watkins nickte. “Sie … äh … sagten, die Sache mit den Träumen bliebe unter uns. Ich glaube nämlich nicht, dass es Ms. Sommers gefallen würde, wenn ihre Geschichte quer durch die Medien ginge. Diese Typen würden ihr bis an den entlegensten Winkel der Welt folgen, um eine Story zu bekommen.”
“Von mir erfährt niemand etwas. Ich werde das Ganze als einen Fall von väterlicher Hartnäckigkeit behandeln. Die unnachgiebige sechsjährige Suche nach seiner Tochter. Wie er alte Hinweise zusammensetzte und neue fand. Wie seine Suche ihn zu Ginny Purcell führte.”
“Ja. Ich hoffe nur, dass er auch Molly findet, und zwar wohlbehalten.”
“Das hoffe ich auch”, stimmte Riker ihm zu. Er starrte auf den Berg in der Ferne. “Das hoffe ich auch.”
Gegen Mittag wurde es heiß. Da sie wussten, dass die körperliche Anstrengung sie warm halten würde, hatten
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