Engelslieder
hängte ihr Seil ein. Dann steckte sie eine Hand in den Chalkbag an ihrer Taille und griff nach oben an ein schmales Stück Granit, das aus der Felswand hervorragte und ihren Fingern stabilen Halt bot. Sie schwang ein Bein hoch, hakte die Ferse ein und zog sich hinauf. Nach gut einem Meter erreichte sie das Ende der Steigung, einen schmalen Absatz, auf dem ein Kiefernbaumstamm von rund zehn Zentimetern Durchmesser aus der Seite des Berges herausragte – der ideale Platz, um ihr Seil festzumachen, während Ben den Abhang erklomm.
Sie beobachtete ihn dabei, wie er in die Route einstieg – die angespannten Muskeln unter der sonnengebräunten Haut seiner Schultern, die durchtrainierten Oberschenkel und Waden, die schwer arbeiteten. Ein feiner Schweißfilm bedeckte seinen Körper, und sie konnte sein angestrengtes Atmen hören, als er nach einem Griff suchte, schließlich einen Tritt mit dem Fuß fand und sich mit den Beinen nach oben schob.
Er sah umwerfend aus, stark und männlich, der Traum einer jeden Frau. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie wichtig er ihr geworden war.
Sie schüttelte den Kopf. Ihre gemeinsame Zeit näherte sich immer weiter dem Ende. Aber das war egal. Sie würde alles tun, was in ihrer Macht stand, um ihm zu helfen. Seine Bedürfnisse waren wichtiger geworden als ihre. So sehr liebte sie ihn.
Die Worte erfassten sie wie ein kurzer, heftiger Sturm und hätten sie fast vom Berg gefegt. Sie liebte Ben. Sie war nicht nur verliebt. Nein, sie liebte ihn über alles, und wenn das hier vorüber war, würde ihr Herz in tausend Stücke zerspringen.
Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus, um sich zu beruhigen. Das war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um ihre Gefühle für Ben zu analysieren. Sie musste jetzt an Molly denken. Das kleine Mädchen schwebte in großer Gefahr, und sie beide waren die Einzigen, die es retten konnten.
Sie blickte den Berg hinab zu Ben und beobachtete ihn dabei, wie geschickt er mit dem Seil umging, wie er nach unten griff und die von ihr befestigten Hilfsmittel einsammelte, während er immer höher stieg. Seine Aufgabe bestand darin, die Sicherungsgeräte mitzunehmen, die sie auf der Route verwendeten, und sie am Ende der Steigung dem ersten Kletterer – in diesem Fall ihr – zurückzugeben.
Kaum hatte er den Vorsprung erreicht, auf dem sie gegen die Wand gelehnt saß und sich mit den Füßen am Baumstamm abstützte, brachte er sich auch schon in Position, um sie für den Einstieg in die nächste Route zu sichern.
Sie warf einen kurzen Blick auf die Karte. “Am Ende dieser Steigung können wir wieder ein bisschen wandern. Das gibt uns die Gelegenheit, Kräfte für den nächsten Kletterabschnitt zu sammeln.”
Ben nickte bloß. Autumn konnte nur erahnen, wie schwer es für ihn war, sich zu konzentrieren, während er sich wie wahnsinnig um seine Tochter sorgte. Doch bislang machte er seine Sache ausgezeichnet. Er wirkte, als hätte er schon Dutzende Gipfel wie diesen erklommen.
Der Morgen ging im Nu vorbei, die Luft wurde trockener und wärmer. Bisher lagen sie gut in der Zeit. Sie hatten noch sechs weitere, schwierige Hänge vor sich, inklusive des Pinnacle, bevor sie die Teufelswand erreichen würden. Sie schaute zu Ben, sah, dass er das Seil verankert hatte und bereit war, sie zu sichern, und begann die nächste Steigung zu begehen.
Ben betrachtete die kleinen, kräftigen Beine, die sich sicher auf der vor ihm liegenden Route bewegten. Autumns Können war wirklich bemerkenswert – wie anmutig sie Hände, Arme und Beine bewegte, die sich die winzigsten Griffe und Tritte suchten, wie gekonnt sie die Sicherungsgeräte platzierte und dabei den bestgeeigneten Weg wählte. Sie half ihm, zu seiner Tochter zu gelangen, sie tat alles in ihrer Macht Stehende, um Molly zu finden, bevor Eli Beecher ihr wehtun konnte.
Für Autumn gab es keine halben Sachen und keinen Platz fürs Versagen. Das war von Anfang an ihre Haltung gewesen. Sie war nie zurückgewichen, hatte niemals aufgegeben, sondern war immer weitergegangen. Keine Frau war jemals so für ihn da gewesen wie sie, und nie hatte er sie mehr geliebt als an diesem Tag. Stark, loyal, schön, leidenschaftlich – ihm wären noch zig andere Adjektive eingefallen, um ihre Qualitäten zu benennen.
Was auch immer geschah, wie die Sache auch immer ausginge – wenn das alles vorüber wäre, würde er sie fragen, ob sie ihn heiraten wollte.
Er wünschte nur, er könnte sich etwas sicherer sein, dass sie Ja
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