Engelslieder
das Bergmassiv. Sein Helm knirschte laut, als er auf den harten Stein traf. Dann schwang er wieder zurück und konnte nur knapp dem riesigen Felsbrocken ausweichen, der sich über ihm gelöst hatte und nun den Berg hinuntersauste. Schließlich pendelte er in der Luft langsam aus.
An einem Felsvorsprung über ihm fest verankert, hielt Autumn ihn sicher fest, während er vor und zurück schwang und versuchte, mit den Füßen an der glitschigen Wand Halt zu finden.
Dann endlich gelang es ihm, mit der Hand in einen Felsspalt zu greifen und sich an die Wand zu ziehen. Er war wieder Herr der Lage. Nach und nach kehrte die Kraft in seinen Körper zurück. Ben bemerkte erst, dass er blutete, als ihm etwas Feuchtes in die Augen lief und er es mit dem Handrücken wegwischte. Er holte ein kleines Handtuch aus dem Rucksack und tupfte sich das Gesicht ab. Dann langte er in das Täschchen an seiner Hüfte, um sich die Hände mit Kreide zu trocknen.
Zum ersten Mal verstand er, dass das Leben eines Kletterers in den Händen seines Partners lag – oder in seinem Fall: in den Händen seiner Partnerin. In Autumn habe ich die perfekte Partnerin gefunden, dachte Ben mit einem flüchtigen Lächeln.
“Wow, das war ja mal ein Sturzflug”, rief er nach oben, während er sich aufs Weiterklettern vorbereitete. Er wollte sie beruhigen. Zum Glück konnte sie nicht sehen, dass sein Herz immer noch wie verrückt hämmerte. Bei der ersten Bewegung bemerkte er ein Pochen im Knöchel. Als er mit der Hand Halt suchte, spürte er ein scharfes Stechen an der Stelle, wo die Haut aufgeschürft war. An Knien und Schienbeinen brannten diverse Schnitte.
Ben fluchte leise. Sie waren fast am Ziel. Er konnte keine zusätzlichen Schmerzen gebrauchen. Er hatte keine Zeit für Blessuren und Blut. Er atmete tief durch, sammelte seine Kräfte und setzte den Weg zum oberen Ende der Teufelswand fort.
31. KAPITEL
“J etzt ist es nicht mehr weit”, sagte Eli. “Wir sind fast da.”
Ruth jagte ein Schauder über den Rücken. Bald würde es dunkel werden. Eli hatte gesagt, sie würden vor Einbruch der Dunkelheit die Hütte erreichen. Sie war müde. An der Stelle, wo ihr Wanderschuh am Knöchel rieb, schmerzte ihre Haut. Sie hätte Eli gern um eine Pause gebeten, traute sich jedoch nicht. Er wanderte häufig und schien überhaupt nicht müde zu werden. Im Gegenteil – offenbar war er erpicht darauf, endlich sein Ziel zu erreichen.
Ruth glaubte zu wissen, weshalb.
Wenn sie die Hütte erst erreicht hätten, würde Eli die Worte sprechen, die sie verheirateten, und dann müsste sie sie sagen, und dann wäre sie seine Frau. Ihr war speiübel. Mit jedem Schritt, den sie den Berg hinaufging, wurde die Angst größer. Sarah hatte gesagt, sobald sie verheiratet seien, müsse sie sich ausziehen und sich von Eli angucken lassen. Sich anfassen lassen und alles machen, was er wollte.
Ruths Augen füllten sich mit Tränen. Für einen Moment erwog sie wegzulaufen. Dann blickte sie sich um und sah nichts als einen dichten grünen Wald aus haushohen Kiefern, bedrohliche Schatten und Dunkelheit. Auf dem bewachsenen Pfad würde sie nie den Weg zurück nach Hause finden. Es gab Bären hier draußen und Berglöwen und Krabbeltiere, die sie sich gar nicht erst vorstellen mochte. Und wer weiß was sonst noch.
Es gab einfach kein Entkommen.
“Beeil dich, Mädchen. Du musst dich noch umziehen, wenn wir da sind. Dein Hochzeitskleid wartet. Ihr Frauen mögt doch solche Sachen.”
Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie sich einen Dreck um das Hochzeitskleid scherte. Dass sie überhaupt nicht heiraten wollte. Stattdessen schwieg sie. Wenn sie weinte oder diskutierte, würde sie ihn nur verärgern. Und was auch immer er mit ihr vorhatte, es würde umso schlimmer werden, wenn er wütend war.
Durch die vor ihr liegenden Bäume kam allmählich die unscharfe Silhouette eines Hauses in Sicht. Als sie näher kam, konnte sie ein kleines, aus Holzstämmen gefertigtes Haus ausmachen.
Elis Blockhütte
. Ein stummer Schluchzer stieg ihr in der Kehle hoch. Sie waren da. Und sie konnte nichts tun, um die Geschehnisse abzuwenden. Während sie Eli weiter folgte, fing Ruth an zu einem Gott zu beten, der ihr niemals zuhörte. Sie betete, sie möge irgendwie gerettet werden.
“Es muss hier irgendwo sein”, sagte Ben, während er die Gegend im dämmrigen Abendlicht mit den Augen absuchte.
“Es ist hier”, erwiderte Autumn. “Der Weg geht kurz vor dem Gipfel links vom Hauptweg ab, und genau
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