Engelslieder
Schultern verspannten sich. “Was hast du gesehen?”
Autumn öffnete ihr schwarzes, mit Perlen verziertes Handtäschchen und holte die Abschrift hervor, die sie von den nächtlichen Notizen gemacht hatte.
“Ich habe alles aufgeschrieben. Du kannst es dir bei Gelegenheit ansehen.”
Ben schaltete das Licht im vornehmen Fahrgastraum der Limousine ein und las sich die Zeilen genau durch.
“Das ist ziemlich detailliert. Alle drei Frauen sind attraktiv, groß und schlank und haben lange blonde Haare und blaue Augen. Du schreibst, nichts an ihnen weist auf modisches Interesse hin. Was genau meinst du damit?”
“Ich bin mir nicht sicher. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass sie alle recht jung sind, ist ihre Kleidung eher schlicht – keine trägt ein Tommy-Bahama-Top oder so was.”
“Du hast ihr Alter geschätzt … Molly zwölf – na ja, zumindest fast zwölf. Eine von ihnen scheint etwa fünfzehn zu sein. Die andere Ende dreißig.”
“Genau.”
“Du schreibst, in dem Haus stehen keine teuren Möbel – ein älterer Ofen, ein langer Tisch in der Küche unter einer ausladenden Lampe. Die Frauen haben den Tisch offenbar fürs Abendessen gedeckt.” Er sah auf. “Hier steht, du kannst durch das Küchenfenster die Berge sehen.”
“Ich habe sie zum ersten Mal wahrgenommen.”
“Richtige Berge oder nur Hügel?”
“Ich weiß nicht genau. Ich habe nur einen kurzen Blick darauf erhascht. Ich kann nicht sagen, ob sie aus Granit oder Sandstein sind oder wie sie sonst aussehen. Und auch nicht, ob sie mir bekannt vorkommen.”
Bens finsterer Blick wanderte über ihr Gesicht. “Du hast nach jeder unserer Begegnungen geträumt.”
“Ja.”
Er speicherte diese Information ab, widmete sich den restlichen Aufzeichnungen, faltete die Blätter dann sorgfältig zusammen und steckte sie in die Innentasche seines Smokingjacketts.
Bald erreichten sie den Veranstaltungsort. Die Benefizgala fand im Ballsaal des feudalen Fairmont Olympic Hotel statt. Nachdem sie Ben von ihrem letzten Traum erzählt hatte, entspannte Autumn sich ein bisschen. Vielleicht gelänge es ihr sogar, sich zu amüsieren. Zumindest soweit es ihre Nerven gestatteten.
Ben half ihr aus der Limousine. Gemeinsam flanierten sie über den roten Teppich in das Hotel, eines der prachtvollsten im Nordwesten. Die Decken waren mit herrlichem Stuck verziert, korinthische Säulen schmückten die Lobby, und eine verschnörkelte, leicht gebogene Treppe führte hinauf zum Spanischen Ballsaal in der ersten Etage. Autumn hatte hier das eine oder andere Mal zu besonderen Anlässen mit Freunden angestoßen, aber diese Wohltätigkeitsveranstaltung der Seattle Symphony war etwas anderes. Heute Abend war sie ein Gast, und sie war fest entschlossen, das Beste daraus zu machen.
Ben bewegte sich durch die Lobby wie ein Mann, der in die vornehme Umgebung gehörte, und sie hielt sich an seinem Arm fest.
Er beugte sich zu ihr. “Du spielst doch gern Herausputzen. Ich muss sagen, Cinderella, du hättest es nicht besser machen können.”
Nein, es konnte nicht noch besser werden. Sie ging mit Prince Charming auf einen Ball, doch genauso wie bei Cinderella würde sich am Ende des Abends ihre Kutsche in einen Kürbis verwandeln, und sie würde in die wirkliche Welt zurückkehren, in der sie nur eine Lehrerin war.
Und Prince Charming würde sich nur so lange mit ihr abgeben, wie er sie brauchte, um seine Tochter zu finden.
In dem prunkvollen Spanischen Ballsaal platzierte man sie an einem runden Tisch, zusammen mit sechs weiteren Gästen, die allesamt elegante, teure Kleidung trugen. Ben stellte sie als eine Freundin vor, die sowohl an der Schule seiner Tochter unterrichtete als auch professionelle Kletterkurse gab, die zurzeit auch er besuchte.
Die Männer musterten sie, nahmen ihre Statur zur Kenntnis und warfen ihr skeptische Blicke zu, die Frauen jedoch waren hochinteressiert. Ehe sie sich’s versah, beantwortete Autumn Fragen zum Klettern und zu den Fähigkeiten, die der Sport erforderte, und begann tatsächlich, sich zu amüsieren.
“Siehst du, du machst dich hervorragend”, flüsterte Ben ihr zu. “Ich wusste es.”
“Wirklich?”
“Allerdings. Du bist anscheinend die Einzige, die ihre eigenen Fähigkeiten anzweifelt.”
Sie sah ihm in die Augen. “Nicht wenn es ums Klettern geht.”
“Nein, dann nicht.”
Das Essen wurde serviert, und es wurden Reden gehalten, die glücklicherweise nicht so lange dauerten, wie sie befürchtet hatte. Dann stimmte
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