Engelslieder
fertigzumachen. Im Stillen verfluchte sie das Schicksal, weil es ihr Leben mit Bens verflochten hatte.
Um Punkt zwölf drückte Ben auf den Klingelknopf in der Lobby ihres Wohnhauses. Er kam hinauf, half ihr in eine leichte Jacke, die sie über ihren hellblauen Pullover zog, nahm ihr die kleine Reisetasche aus der Hand und begleitete sie nach unten. Er legte tadellose Manieren an den Tag, was in ihr die Frage nach seinem familiären Hintergrund und seiner Herkunft weckte. Sie befahl sich selbst, nicht zu fragen. Je weniger sie über Ben wusste, desto besser.
Als sie die Lobby erreichten, hielt Ben die schwere Glastür auf, und sie traten auf den Gehsteig hinaus. Ein Lincoln Town Car wartete vor dem Gebäude, um sie zu dem Anleger zu bringen, an dem Bens Boot lag. Sie ließen sich auf die tiefen Ledersitze gleiten.
Kaum hatte sich der Wagen in den Verkehr eingefädelt, wandte Autumn sich Ben zu. “Okay, jetzt sag mir endlich, was hier vor sich geht.”
Ben beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie leicht auf den Mund. “Ich habe dich vermisst, Baby.” Noch ehe sie Zeit hatte zu reagieren, begann er zu erzählen, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen.
“Nach meinem Gespräch mit Joanne habe ich nachgedacht. Wir wissen, wie der Kerl aussieht, aber viel mehr auch nicht. Also habe ich einen Freund angerufen – Lee Walker. Er arbeitet für das FBI.”
“Das FBI? Ich dachte, du wolltest die Polizei vorerst noch nicht einschalten.”
“Das tue ich auch nicht – zumindest nicht so, wie du denkst. Auf der Highschool spielten Lee und ich zusammen Football in der Schulmannschaft. Eine Zeit lang war er mein bester Freund. Nach dem Abschluss ging ich an die University of Michigan und Lee an die Ohio State. Mit den Jahren ist der Kontakt eingeschlafen, aber als Lee hörte, was mit Molly geschehen war, bat er mir seine Hilfe an. Gestern rief ich ihn an, um ihn zu fragen, ob er den Kontakt zu einem FBI-Profiler herstellen könnte.”
“Ein Profiler? Wie im Fernsehen?”
Er nickte. “Ich habe ein wenig recherchiert. Was diese Jungs machen, nennt sich ‘operative Fallanalyse’. Profiler oder Fallanalytiker sehen sich alle vorliegenden Indizien und Informationen an – entweder an den jeweiligen Tatorten oder indem sie die Polizeiakten studieren. Sie setzen die Puzzleteile zusammen und erstellen ein Täterprofil von der an einem Verbrechen beteiligten Person.”
“Ich dachte, Profiler werden nur eingesetzt, um Serienmörder ausfindig zu machen.”
“Das zwar auch, aber nicht nur. Sie helfen auch bei Einzelmorden, Vergewaltigungen, Brandstiftung, Bombenanschlägen oder sogar Erpressung.”
“Und offensichtlich beschäftigen sie sich auch mit Kindesentführung.”
“Manchmal schon – auch wenn man sie in Mollys Fall nicht eingesetzt hat. Lee sagt, laut Statistik ermorden die meisten Entführer ihre Opfer innerhalb der ersten zweiundsiebzig Stunden, oder sie lassen sie frei. Da wir annehmen, dass Molly noch lebt, kann der Profiler uns hoffentlich einen besseren Eindruck davon verschaffen, was der blonde Mann für ein Typ Mensch ist.”
“Das ist wirklich eine Spitzenidee, Ben.”
“Lee sagt, unter den dreizehntausend FBI-Agenten gebe es nur vierzig Vollzeit-Profiler. Wir haben Glück. Einer von ihnen befindet sich zurzeit auf Bainbridge Island, wo er an einem Mordfall arbeitet. Er heißt Burt Riker. Lee meint, Riker stecke bis zum Hals in Arbeit, aber falls wir es irgendwie schafften, ihn aufzusuchen, würde er sich etwas Zeit für uns freischaufeln – entweder heute Nachmittag oder morgen früh. Ich dachte mir, wenn wir das Boot nehmen, können wir dort die Wartezeit verbringen.”
Die Limousine kutschierte sie durch den Verkehr, schlängelte sich den Magnolia Boulevard bis zum Jachthafen hoch. Dann blieb das Fahrzeug stehen, und der Fahrer, ein hagerer junger Mann mit braunen Haaren, öffnete die hintere Tür.
“Danke, Ted”, sagte Ben, als sie ausstiegen. “Wegen der Rückfahrt rufe ich Sie an.” Offensichtlich wollte Ben keines seiner Autos unbeaufsichtigt am Kai stehen lassen.
“Jederzeit, Mr. Mac.”
Ben schnappte sich sein und Autumns Gepäck sowie eine lederne Aktentasche, die ihr erst jetzt auffiel. Sie gingen auf die Hafenanlage zu. Ben schloss ein großes Eisentor auf, und sie liefen die Landungsbrücke zum Anleger hinunter. Vor einer schmalen weißen Motorjacht, auf dessen Heck der Name Katydid stand, blieb er stehen.
“Ich habe schon seit Jahren ein Boot”, erklärte Ben.
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