Engelslieder
das Abendessen. Dann kam der blonde Mann herein. Auch die Unterhaltung war dieselbe, bis sie sich an den Tisch setzten und der Mann fragte, wo Mary sei.”
“Mary? War das der Name des kleinen Mädchens?”
Sie nickte. “Er sprach mit der älteren Frau, die er Rachael nennt. Dann sagte er: ‘Rachael, wo ist Mary?’”
“Was hat Rachael geantwortet?”, hakte Ben vorsichtig nach, während das Diktiergerät im Hintergrund surrte.
“Sie sagte, Mary werde bestraft. Sie bekäme so lange kein Abendessen, bis sie gelernt habe, auf den Namen zu hören, den sie ihr gegeben haben.”
“Also ist Mary nicht ihr richtiger Name, genauso wie bei Molly. Wie alt war sie?”
“Ich glaube … ungefähr zwischen fünf und sieben. Sie sieht genauso aus wie Molly in dem Alter.”
“Was ist dann passiert?”
Autumn schloss die Augen, um sich die Bilder des Traums noch einmal zu vergegenwärtigen. “Das kleine Mädchen ging von dem anderen Zimmer zur Küchentür. Es blieb stehen, und der blonde Mann erhob sich. Er sagte, er würde das mit Mary klären. Sie sei alt genug für einen Besuch in seiner Garagen-Werkstatt. Dann bin ich aufgewacht.”
Sie sah ihn an, und die Tränen stiegen ihr in die Augen. “Oh Gott, Ben … Was ist, wenn der Traum wahr ist und er noch ein Mädchen entführt hat?”
Ben schaltete das Diktiergerät aus und nahm sie in den Arm. Autumn klammerte sich an ihn, ihre Wange lag an seiner. Sie bemühte sich, nicht zu weinen, aber die Tränen lösten sich von ihren Wimpern und kullerten die Wangen hinab.
Sie wusste nicht, wie lange sie das noch ertragen konnte. Wie lange sie beide das noch ertragen konnten.
Wann, in Gottes Namen, wäre das alles endlich vorbei?
Sie spürte, wie Ben ihr zärtlich mit der Hand über den Rücken streichelte, und das Zittern, das ihren Körper schüttelte, ließ nach.
“Ist schon gut, Liebes. Beruhig dich. Hör auf zu weinen.”
Autumn nickte stumm. Sie hielt sich noch einen Moment lang an ihm fest, atmete dann stockend ein und löste sich von ihm. “Ich glaube, es war echt, Ben.”
Der Seufzer, der ihm entfuhr, klang müde. “So echt wie alles andere, meinst du.”
“Ja … So echt, wie ein Traum eben sein kann.”
Er schwang die Beine aus dem Bett, stand auf und zog den dunkelbraunen Frotteebademantel über, den er zu seiner letzten Übernachtung mitgebracht hatte. “Lass uns den Traum noch mal genau durchgehen und die Kassette abspielen.”
“Okay.”
“Ich glaube, eine Kanne Kaffee kann dabei nicht schaden.”
“Gute Idee.” Autumn griff nach ihrem rosa Hausmantel und ging an ihm vorbei aus dem Schlafzimmer und in die Küche.
“Wir müssen mit der Polizei sprechen”, sagte Ben, während er hinter ihr herlief. “Wir müssen wissen, ob ein Kind, auf das die Beschreibung des Mädchens aus deinem Traum passt, in den letzten Monaten als vermisst gemeldet wurde. Es kann ja noch nicht lange her sein, wenn Mary sich weigert, auf ihren neuen Namen zu hören.”
“Genau dasselbe habe ich auch gedacht.”
“Gleich morgen rufe ich Doug Watkins an. Mal sehen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann.”
“Wenn wir der Polizei die Wahrheit sagen, wird sie uns nicht glauben.”
“Doug ist ein feiner Kerl”, erwiderte Ben. “Ich glaube, er wird uns helfen.”
“Wenn ein Kind entführt wurde, kann es nicht in der näheren Umgebung passiert sein. Das hätten wir ja mitbekommen. Vielleicht hat er sie in einem anderen Staat verschleppt.”
“Möglich. Verdammt, womöglich lebt er Hunderte Meilen von uns entfernt, und wir haben die ganze Zeit am falschen Ort gesucht.”
Autumn schüttelte den Kopf. “Das kann natürlich sein, aber ich glaube es nicht.” Sie schlurfte zum Schrank und nahm eine Packung frisch gemahlenen Kaffee heraus. “Ein Mal habe ich ihn ja gesehen. Ich reise zwar öfter mal, aber irgendein Gefühl sagt mir, dass ich ihm irgendwo in der Nähe begegnet bin.”
“Wer weiß, vielleicht verschafft uns dein Hypnotiseur mehr Klarheit.”
Sie schaute zum Frühstückstresen hinüber, an dem er stehen geblieben war. Er sah besorgt und erschöpft aus. “Hoffentlich”, sagte sie. “Das hoffe ich wirklich.”
Der Hypnotiseur Peter Blakely war ein Mann in den Vierzigern. Sieht gut aus, dachte Ben. Sein hellbraunes Haar war grau meliert, und er hatte blaue Augen und ein sympathisches Lächeln. Er sah völlig normal aus – beigefarbene Hose, blauer, kurzärmeliger Izod-Pullover. Nicht im Geringsten wie der Spinner, mit dem Ben gerechnet
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