Engelslieder
gebeten, ihren Morgenkurs zu übernehmen. Danach hatte sie zwei Einzelstunden auf den Nachmittag verschoben. Sie betrat die Halle und ging direkt zu Josh, der mit Ned trainierte – Autumns erster Einzelstunde des Tages. Sie ermahnte sich, bei der Sache zu bleiben. Schließlich wurde sie fürs Arbeiten bezahlt.
Doch es fiel ihr nicht leicht. Sie wusste, was die Worte des Profilers bei Ben bewirkt haben mussten. Er machte sich mehr Sorgen als zuvor. Seitdem sie wussten, mit welcher Sorte Mensch sie es zu tun hatten, hing seine Beherrschung am seidenen Faden.
“Ich schwöre dir, wenn wir diesen Kerl finden”, hatte er auf dem Heimweg gesagt, “reiße ich ihn in tausend Stücke.”
“Wir kommen doch allmählich voran, Ben. Daran musst du glauben. Du musst dich darauf konzentrieren, Molly zu finden.”
Er biss die Zähne aufeinander. “Ich weiß.”
Doch schon wieder fehlte es ihnen an neuen Anhaltspunkten. Sie hatten Flyer und E-Mails mit der Phantomzeichnung des blonden Mannes an Oldtimerclubs im ganzen Bundesstaat verschickt, woraufhin sich ein paar Anrufer gemeldet hatten, die Männer beschrieben, die dem auf der Zeichnung ähnelten. Doch Pete Rossis anschließende Nachforschungen hatten ins Leere geführt. Vielleicht förderte Rikers Suche im Pädophilenregister irgendetwas zutage. Während Autumn beobachtete, wie gekonnt Ned die Route an der Kletterwand beging, betete sie, dass es so käme.
“Er ist schon richtig gut, was?” Josh stand neben ihr auf der Matte vor der Wand und sicherte ihren Schüler für sie. Zwar hätte Autumn es ebenfalls geschafft, aber da Josh eher in Neds Gewichtsklasse fiel, war es so leichter. Außerdem hatte er ja ohnehin schon mit ihm trainiert.
“Er hat ein unglaubliches Talent.” Angetan verfolgte Autumn, wie grazil Ned die Wand bis zum obersten Griff emporkletterte. Das rote Muskelshirt klebte an seinem breiten Rücken, der vom Schweiß glänzte. Er machte eine kleine Pause, um wieder zu Atem zu kommen, und machte sich dann vorsichtig auf den Rückweg.
“Du warst super”, lobte Autumn ihn, als er unten ankam. “Nimm dir jetzt das Seilbündel dort, leg es dir um die Schultern, und geh noch mal rauf.”
Ned grinste. Das Bündel wog fünfundzwanzig Pfund. Beim traditionellen Klettern konnte das Gewicht der Ausrüstung inklusive Seil locker das Doppelte betragen. Weil Autumn so klein war, benutzte sie besonders leichtes Zubehör, das aus unerfindlichen Gründen auch besonders teuer war.
Ned begann mit dem nächsten Durchgang, die silbernen Ohrringe funkelten, die dunklen, muskulösen Beine bewegten sich so rhythmisch wie bei einem Tänzer. Er verkeilte Finger und Hände in den Spalten der künstlichen Granitwand. Während er seinen großen, durchtrainierten Körper weiter hinaufzog und dabei an der Wand klebte wie eine Fliege an der Fensterscheibe, schweiften ihre Gedanken zu Ben ab, der für einen unerfahrenen Kletterer ebenfalls erstaunlich gut war.
“Ned und ich fahren am Wochenende in die Berge.” Joshs Worte holten sie abrupt in die Gegenwart zurück. Er stand breitbeinig neben ihr und war für den Fall gewappnet, dass Ned abrutschte. “Courtney kommt auch mit. Was ist mit dir?”
Autumn zog eine Augenbraue hoch, als sie ihn ansah. “Ich habe gehört, dass du mit Courtney aus warst. Ich mag sie. Sie ist ein tolles Mädchen, Josh.”
Er lächelte beinahe schüchtern. “Ja, mit Court kann man ‘ne Menge Spaß haben. Und sie klettert echt gut.”
Ned erreichte das obere Ende der Wand und begann sogleich mit dem Abstieg. Dieses Mal war jeder seiner Schritte wohl überlegt. Er war fest entschlossen, besser zu werden. Ned war ehrgeizig.
Autumn verstand das gut. Sie selbst war genauso.
“Und, was ist jetzt, kommst du mit?”, wiederholte Josh.
“Ich hätte wirklich Lust, Josh. Ehrlich. Aber ich habe im Moment einfach zu viel zu tun.”
“Klar … Weißt du, ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn mögen würde … Ben, meine ich. Aber ich mag ihn.”
“Ich mag ihn auch”, erwiderte sie und bemühte sich, die erotischen Bilder der vergangenen Nacht auszublenden.
Josh fuhr fort: “Aber er ist immer noch Ben McKenzie. Wenn er an den Geräten trainiert, schieben die Frauen allerlei Vorwände vor, nur um mit ihm zu sprechen. Er lebt auf der Überholspur, Autumn. Aber du bist anders. Ich habe Angst, dass du verletzt wirst.”
Ihr Magen verkrampfte sich. Sie war nur selten zur selben Zeit mit Ben im Fitnessstudio, aber sie konnte sich noch gut daran
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