Engelsmorgen
vorne, ihre Klinge kreuzte sich mit der ihrer Gegnerin und alle beide zogen sie sie dann wieder zurück. Aber Luce setzte einen Augenblick früher als Lilith zum nächsten Angriff an, mit einer raschen, gezielten Bewegung warf sie sich nach vorne, führte ihr Florett nach rechts, dann nach links und berührte schließlich mit der Spitze Lilith seitlich am Oberkörper. Alle ringsum jubelten, aber Luce gab sich damit noch nicht zufrieden. Sie löste sich und vollführte dann sofort eine weitere Attacke, bei der sie die Spitze ihrer Klinge in das wattierte Bauchteil von Liliths Fechtanzug bohrte.
Damit war der Sieg klar.
Lilith schmiss ihr Florett auf den Boden, zog die Maske vom Gesicht und warf Luce einen tödlichen Blick zu, bevor sie sich schnell in Richtung Schließfächer verzog. Alle anderen waren aufgesprungen und umringten Luce. Dawn und Jasmine umarmten sie von rechts und von links und knufften sie dabei freundschaftlich. Shelby kam auf sie zu, um mit ihr abzuklatschen, und hinter ihr konnte Luce Miles entdecken, der geduldig wartete, bis er an die Reihe kam. Dann hob er sie hoch und hielt sie eine Weile fest in seinen Armen.
Sie schlang ebenfalls ihre Arme um seinen Hals und musste daran denken, wie betreten sie gewesen war, als sie nach seinem Wettkampf mit Roland zu ihm gelaufen war – und mitansehen musste, wie Dawn schneller war als sie. Jetzt war sie einfach nur glücklich, dass er da war, glücklich über seine aufrechte, ehrliche, freundschaftliche Unterstützung.
»Wie wär’s, wenn du mir Fechtunterricht gibst?«, fragte er lachend.
Luce schaute aus ihrer Umarmung hoch zum Himmel, zu den Schatten, die sich entlang der dicken Äste des Mammutbaums drängten. Ihre Stimmen waren jetzt leiser, undeutlicher, aber immer noch klarer als jemals zuvor. Wie ein Radiogerät, aus dem bisher immer nur ein Rauschen zu hören gewesen war und das jemand endlich richtig eingestellt hatte. Sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte oder ob ihr das eher Angst einjagte.
Elf
Acht Tage
»Augenblick mal!« Callies Stimme schepperte aus dem Handy. »Ich muss mich erst mal zwicken, um sicher zu sein, dass ich nicht träume …«
»Du träumst nicht«, sagte Luce. Der Empfang war hier am Waldrand, wo sie stand, nicht gerade der beste, aber Callies beißender Spott kam laut und deutlich genug rüber. »Ich bin’s wirklich. Tut mir leid. Ich war eine schlechte Freundin.«
Es war Donnerstag nach dem Abendessen, und Luce lehnte am Stamm eines mächtigen Mammutbaums, nicht weit vom Wohnheim. Zu ihrer Linken stieg sanft ein Hang zur Steilküste an und danach gab es nur noch den Ozean. Am Horizont war immer noch ein gelb-goldener Lichtstreifen zu sehen. Ihre neuen Freundinnen und Freunde saßen jetzt alle vor der Nephilim-Lodge ums Lagerfeuer, quasselten und erzählten sich Teufelsgeschichten. Der Abend zählte zu den Veranstaltungen, die Dawn und Jasmine organisierten, und war Teil der sogenannten Nephilim-Nächte, bei deren Organisation eigentlich auch Luce hatte mithelfen wollen. Aber alles, was sie getan hatte, war, in der Cafeteria ein paar Tüten Marshmallows und Brownies zu organisieren.
Danach hatte sie sich zum Schatten des Waldsaums geschlichen, um völlig unbeobachtet zu sein und sich um ein paar andere wichtige Dinge zu kümmern:
Ihre Eltern. Callie. Und die Verkünder.
Sie hatte mit dem Anruf bei ihren Eltern bis jetzt gewartet. Donnerstags war ihre Mutter immer bei einer Nachbarin, um dort mit drei Freundinnen Mah-Jongg zu spielen, und ihr Vater verbrachte den Abend im kleinen Kino des Orts, um sich eine Live-Übertragung aus der Oper in Atlanta anzuschauen. Sie würde sich ihre Stimmen auf dem über zehn Jahre alten Anrufbeantworter anhören und eine dreißig Sekunden lange Nachricht hinterlassen, in der sie ihnen beteuerte, dass sie alles versuchte, damit Mr Cole sie an Thanksgiving nach Hause ließ – und dass sie sie beide über alles liebte.
Callie ließ sich nicht so einfach abspeisen.
»Ich hab gedacht, du darfst nur mittwochs telefonieren«, sagte sie gerade. Luce hatte ganz vergessen, dass es in Sword & Cross ja strenge Vorschriften gegeben hatte, wann und wie lange die Schüler telefonieren durften. »Zuerst hab ich mir den Mittwoch immer freigehalten, um einen Anruf von dir ja nicht zu verpassen«, fuhr Callie fort. »Aber nach einer Weile habe ich dann aufgehört, darauf zu warten. Wie bist du denn jetzt an ein Handy gekommen?«
»Das willst du echt wissen?«, fragte Luce.
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