Engelsmorgen
Stimmen mischte sich noch etwas anderes. Eine Art Rauschen, das immer lauter wurde. Lilith griff sie weiter mit derselben Energie an, aber Luce war plötzlich abgelenkt. Sie konnte sich nicht mehr so richtig auf das Fechten konzentrieren. Sie richtete sich einen Moment auf und blinzelte in den Himmel. Die Sonne wurde von den mächtigen Bäumen und den bis auf die Terrasse überhängenden Ästen verdeckt – aber das war es nicht. Eine wachsende Schar von Schatten erhob sich von den Ästen, sie schwärmten immer weiter aus. Wie ein Tintenfleck, der sich rasch ausbreitet. Und das direkt über Luces Kopf.
Nein – nicht jetzt, nicht hier in aller Öffentlichkeit, wo ihr alle gerade zujubelten und wo es sie den Sieg in diesem Wettkampf kosten konnte. Aber niemand außer ihr schien diese Invasion zu bemerken. War das möglich? Sie machten so viel Lärm, dass Luce gar nicht anders konnte, als mit den Händen die Ohren zu bedecken, um sie abzuwehren. Das tat sie dann auch. Ihr Florett ließ sie dabei aber nicht fallen, sondern dessen Spitze ragte nun senkrecht in den Himmel, was Lilith ganz offensichtlich zu verwirren schien.
»Lass dich von ihr nicht irre machen, Luce. Sie ist wirklich eine rothaarige Hexe!«, rief Dawn ihr von der Bank zu.
»Wende die prise de fer an!«, brüllte Shelby. »Lilith hasst das wie die Pest. Sie hasst eigentlich alles, aber ganz besonders die prise de fer.«
So viele Stimmen durcheinander. Luce hatte das Gefühl, dass mehr Stimmen durch die Luft schwirrten, als Leute auf der Terrasse waren. Sie hätte sich am liebsten auf dem Boden zusammengekauert und alles um sich herum ausgeblendet. Eine Stimme aber hob sich von allen anderen ab, und ihr war, als würde jemand direkt hinter ihr stehen und ihr ins Ohr flüstern. Steven.
»Filtere den Lärm heraus, Luce. Konzentrier dich auf die Botschaft.«
Sie drehte blitzschnell den Kopf um, aber Steven befand sich auf der anderen Seite der Terrasse. Er sah zu den Bäumen hoch. Meinte er damit die anderen Schüler? Den Lärm, den sie alle machten? Das Gequassel und Geschnatter? Sie blickte in ihre Gesichter, aber sie redeten gar nicht. Wer dann? Den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich Stevens und ihre Blicke. Er nickte zum Himmel hoch. Als würde er auf die Schatten deuten wollen.
In den Bäumen. Über ihrem Kopf. Die Verkünder sprachen zu ihr.
Und sie konnte sie hören. Hatten sie die ganze Zeit schon gesprochen?
Lateinisch, Russisch, Japanisch, Englisch mit einem Südstaatenakzent. Gebrochenes Französisch. Flüstern, Singen, falsche Anweisungen, gereimte Verse. Und ein lang gezogener Hilfeschrei, bei dem einem das Blut in den Adern gefror. Luce schüttelte heftig den Kopf, aber die Stimmen über ihr ließen sich dadurch nicht vertreiben. Sie blickte zu Steven, dann zu Francesca. Sie ließen sich nichts anmerken, aber sie wusste, dass sie die Stimmen ebenfalls hörten. Und sie wusste, dass sie wussten, dass auch sie ihnen lauschte.
Die Botschaft hinter dem Rauschen.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie immer dieses Geräusch gehört, wenn die Schatten kamen – schmatzende, zischende, hässliche Laute. Jetzt aber hatte es sich verwandelt …
Klirr.
Liliths Klinge stieß gegen die von Luce. Das Mädchen schnaubte wie ein wütender Stier. Luce hörte sich unter der Maske selbst schwer atmen, sie keuchte, als sie mit ihrer Klinge Liliths Angriff abzuwehren versuchte. Sie hielt mit aller Kraft dagegen. Dann konnte sie auf einmal aus dem Stimmenwirrwarr viel mehr heraushören. Sie schaffte es, sich auf einzelne Stimmen zu konzentrieren. Der Trick dabei war, das bloße Rauschen von den Lauten, die eine Mitteilung enthielten, zu unterscheiden.
Il faut faire le coup double. Après ça, c’est facile à gagner, flüsterte einer der Verkünder auf Französisch.
Luce hatte gerade erst mit ihren zwei Jahren Highschool-Französisch angefangen, aber die Worte berührten etwas ganz Tiefes in ihr. Tiefer als ihr Verstand. Nicht nur ihr Gehirn verstand nämlich die Botschaft. Auf rätselhafte Weise auch ihr Körper. Was sie da gerade gehört hatte, sickerte tief in sie ein, und sie erinnerte sich: Sie hatte schon einmal an einem solchen Ort gestanden, in einem Fechtkampf wie diesem hier, als es unentschieden stand und der nächste Punkt den Sieg bedeuten würde.
Der Verkünder empfahl ihr einen Doppelangriff, bei dem unmittelbar auf die erste Ausfallbewegung sogleich die zweite folgte. Ein schnelles, kompliziertes Manöver.
Sie machte einen Schritt nach
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