Engelsnacht
als Luce schien er Miss Sophias fremdartige Sprache zu verstehen.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Luce.
»Lass es uns für dich übersetzen«, ertönte eine vertraute Stimme vom Dach der Gruft. Arriane. Und neben ihr stand Gabbe. Als würden sie von hinten angestrahlt, waren beide in einen merkwürdigen Silberglanz gehüllt. Sie sprangen herunter und landeten lautlos neben Luce auf dem Boden.
»Cam hat recht, Daniel«, sagte Gabbe schnell. »Diesmal ist etwas anders … etwas mit Luce. Der Kreislauf könnte durchbrochen werden, aber nicht so, wie wir es uns wünschen. Ich will damit sagen … er könnte ein Ende finden.«
»Kann mir vielleicht jemand erklären, wovon hier die Rede ist?«, mischte Luce sich ein. »Was ist anders? Wie durchbrochen? Und worum geht es überhaupt bei dieser Schlacht?«
Daniel, Arriane und Gabbe starrten sie alle einen Augenblick an, als versuchten sie sich zu erinnern, wer sie eigentlich war. Als kannten sie Luce von irgendwoher, aber als hätte sie sich von einer Sekunde auf die nächste so verändert, dass sie nicht mehr wussten, wohin mit dem Gesicht, das sie vor sich sahen.
Schließlich sprach Arriane. »Worum es geht?« Sie fuhr sich über die Narbe an ihrem Hals. »Wenn die anderen gewinnen, dann haben wir die Hölle auf Erden. Das Ende der Welt, wie wir alle sie kennen.«
Die schwarzen Schatten zischten und züngelten um Cams Körper, versuchten einander zu beißen, balgten miteinander, als wärmten sie sich spielerisch und teuflisch für den Kampf auf.
»Und wenn wir gewinnen?« Luce musste sich anstrengen, die Wörter herauszubringen.
Gabbe schluckte, dann sagte sie feierlich: »Das können wir nicht wissen.«
Plötzlich taumelte Daniel zurück, fort von Luce, und deutete auf sie. »Sie … sie ist nicht …«, stammelte er. »Der Kuss«, sagte er schließlich und packte Luce am Arm. »Das Buch. Deshalb bist du nicht -«
»Komm mal zum zweiten Teil, Daniel«, unterbrach ihn Arriane. »Leg ein paar Gänge zu. Geduld ist eine Tugend, sagt man, und du weißt ja, was Cam von all so was hält.«
Daniel zerquetschte Luce beinahe die Hand. »Du musst jetzt gehen. Du musst unbedingt hier raus, bevor es zu spät ist.«
»Wie? Was?«
Luce blickte hilfesuchend zu Arriane und Gabbe, wich dann staunend und erschrocken zurück, als vom Dach der Grabstätte eine Flut von silbernen Funken herabzuströmen begann. Wie eine endlose Woge von Glühwürmchen, die aus einem riesengroßen Gefäß ausgeschüttet wurde. Sie regneten auf Arriane und Gabbe herab, deren Augen silbern funkelten. Ein Feuerwerk, dachte Luce, wie damals am Nationalfeiertag, als das Licht gerade so gefallen war, dass es sich in den Augen ihrer Mutter gespiegelt hatte, silberne Lichtblitze, die ihre Mutter fremd und geheimnisvoll wirken ließen.
Nur lösten sich diese funkelnden Sterne nicht in Rauch auf wie die Lichter eines Feuerwerks. Wenn sie auf das Gras und die Erde des Friedhofs trafen, erblühten sie zu anmutigen Wesen, die in allen Regenbogenfarben schimmerten. Sie hatten nicht die Umrisse von Menschen, wiesen aber gewisse Ähnlichkeiten auf. Prächtig schillernde Lichtgestalten. Zauberische, verzückende Wesen. Eine himmlische Heerschar, das spürte Luce sofort, die es an Kraft und Stärke mit der bedrohlichen schwarzen Macht hinter Cam aufnehmen konnte. Was wahre Schönheit und Güte war, hatte Luce bisher
nicht gewusst. Jetzt spürte sie es mit allen Sinnen. Diese Wesen waren so hell und rein, dass es in den Augen schmerzte, sie anzuschauen - wie wenn man zu lange direkt in die Sonne starrte. Wie wenn man direkt in den Himmel schauen wollte. Luce hätte sich gestärkt und getröstet fühlen können, dass sie sich auf der Seite befand, die bei der kommenden Schlacht sicherlich gewinnen würde . Stattdessen fühlte sie sich unwohl und krank.
Daniel hielt seinen Handrücken an ihre Wange. »Sie hat leichtes Fieber.«
Gabbe tätschelte lächelnd Luces Arm. »Alles wird gut, Süße«, sagte sie und streifte Daniels Hand fort. Ihr breiter Südstaatenakzent hatte für Luce jetzt etwas Tröstliches. »Wir übernehmen das. Geh jetzt.« Sie blickte über die Schulter zu der Horde aus Finsternis hinter Cam. »Sofort.«
Daniel zog Luce ein letztes Mal in seine Arme.
»Ich bring sie fort«, rief Miss Sophia. Das Buch hatte sie immer noch unter ihren rechten Arm geklemmt. »Ich weiß einen Ort, wo sie sicher ist.«
»Geh«, sagte Daniel dann. »Ich komme, sobald ich kann. Versprich mir, dass du jetzt so schnell
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