Engelsnacht
vor ihren Augen auftauchte. Daniel, der an der Schulter von einem der langen schwarzen Pfeile getroffen wurde, die Penn getötet hatten. Sie blinzelte und blickte auf seine rechte Schulter. An seinem Oberkörper klebte Blut.
»Du bist verletzt«, flüsterte sie.
»Nein«, sagte Daniel.
»Er kann nicht verletzt werden, er ist -«
»Was ist das da, Daniel?«, fragte Arriane. »Ist das Blut?«
»Von Penn«, sagte Daniel unwirsch. »Ich hab sie am Fuß der Treppe gefunden.«
Luces Herz verkrampfte sich. »Wir müssen Penn begraben«, sagte sie. »Neben ihrem Vater.«
»Luce, Süße«, sagte Gabbe und stand vom Altar auf. »Ich wünschte, wir hätten dafür jetzt Zeit, aber wir müssen weiter.«
»Ich kann sie nicht so liegen lassen. Sie hat doch nur mich.«
»Luce -«, begann Daniel und fuhr sich über die Stirn.
»Sie ist in meinen Armen gestorben, Daniel. Weil mir nichts Besseres einfiel, als Miss Sophia hierher in diese Folterkammer zu folgen.« Luce sah alle drei nacheinander an. »Weil keiner von euch mir irgendwas gesagt hat.«
»In Ordnung«, meinte Daniel. »Wir werden für Penn tun, was wir können. Aber dann müssen wir dich schnell von hier fortbringen.«
Ein Windstoß kam durch die Öffnung in der Decke, ließ die Kerzen flackern und fegte die restlichen Glassplitter in das Innere der Kapelle. Einen Augenblick regneten sie als bunter Glasstaub auf den Altar hinunter.
Gabbe war rechtzeitig vom Altar und neben Luce geglitten. Sie schien unbeeindruckt. »Daniel hat recht«, sagte sie. »Der Waffenstillstand, den wir nach der Schlacht ausgerufen haben, gilt nur für Engel. Und da inzwischen so viele von deinem«, sie hielt inne und räusperte sich, »ähm, veränderten Sterblichkeitsstatus wissen, wird es nicht wenige da draußen geben, die plötzlich ein besonderes Interesse an dir haben. Solche, die es bestimmt nicht gut mit dir meinen.«
Arrianes Flügel fächerten hastig und ließen sie ein paar Zentimeter über dem Boden schweben. »Und viele, die es gut mit dir meinen und dir helfen werden, sie abzuwehren«, sagte sie und schwebte auf Luces andere Seite, wie um ihr zeigen: Auf mich kannst du sowieso zählen!
»Ich versteh’s immer noch nicht«, sagte Luce. »Warum ist das alles so wichtig? Warum bin ich so wichtig? Nur weil Daniel mich liebt?«
Daniel seufzte. »Zum Teil ja, so unschuldig das klingen mag.«
»Du weißt doch, dass alle Welt neidisch auf ein glückliches Liebespärchen ist«, meinte Arriane.
»Süße, das ist eine sehr lange Geschichte«, verkündete Gabbe, ganz die Stimme mütterlicher Vernunft. »Wir können dir das alles nur nach und nach erklären.«
»Und auf vieles musst du von allein kommen«, fügte Daniel hinzu, »wie bei meinen Flügeln.«
»Aber warum?«, fragte Luce, die das Gespräch total frustrierend fand. Sie fühlte sich wie ein Kind, dem gesagt wird, dass es warten soll, bis es älter ist. »Warum könnt ihr mir nicht einfach alles erzählen? Ich will begreifen, was hier abläuft.«
»Wir erzählen dir ja auch noch ganz viel«, sagte Arriane, »aber nicht alles auf einmal. Das wäre viel zu gefährlich. Einen Schlafwandler soll man auch nicht aufwecken, der Schock wäre viel zu groß.«
Luce schauderte. Sie schlang die Arme um den Oberkörper. »Ich würde sterben«, sagte sie und sprach damit aus, was die anderen vorsichtig zu umschreiben versuchten.
Daniel legte von hinten die Arme um sie. »All die Male zuvor war es so. Und du bist dem heute Nacht schon ein paarmal nahe gekommen.«
»Und was jetzt?« Sie drehte sich zu Daniel um. »Ich soll also weg von der Schule? Wo bringst du mich hin?«
Daniels Miene wurde ernst und er blickte verlegen zur Seite. »Ich kann dich nirgendwo hinbringen. Das würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Dabei muss uns jemand anders helfen. Es gibt hier einen Sterblichen, dem wir vertrauen können.« Er sah zu Arriane.
»Bin schon unterwegs, um ihn zu holen«, sagte sie.
»Ich will dich noch nicht verlassen«, sagte Luce zu Daniel. Sie fröstelte. »Ich habe dich doch gerade erst wiedergefunden.«
Daniel küsste sie auf die Stirn und sofort breitete sich in ihrem Körper Wärme aus. »Zum Glück haben wir noch etwas Zeit.«
Zwanzig
Tagesanbruch
Morgendämmerung. Der Anbruch des letzten Tages, den Luce auf der Sword & Cross erlebte - für lange Zeit, denn sie wusste nicht, wann sie hierher zurückkehren würde. Und ob überhaupt. Der Ruf einer einzelnen Wildtaube war am safranfarbenen Himmel zu hören, als sie
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