Engelsnacht
durch die Tür der ehemaligen Kirche hinaus ins Freie traten. Langsam wanderte sie Hand in Hand mit Daniel zum Friedhof. Sie schwiegen beide, als sie über das Schulgelände gingen.
Bevor sie die Kapelle verließen, hatten die anderen alle ihre Flügel eingezogen. Es lief ziemlich umständlich ab und es war ernüchternd, ihnen dabei zuzusehen. Sie wirkten erschöpft und unbeholfen, sobald sie wieder normale menschliche Form angenommen hatten. Während Luce der Transformation zusah, staunte sie darüber, wie solche mächtigen, prächtigen Schwingen so klein und zart werden konnten, bis sie schließlich unter der Haut verschwanden.
Als es geschehen war, ließ sie die Hand über Daniels Rücken gleiten. Es war das erste Mal, dass er das so hingebungsvoll mit sich geschehen ließ, so empfindsam auf ihre Berührung reagierte. Seine Haut war zart und makellos wie bei einem Baby. In seinem Gesicht, aber auch in den Gesichtern von Arriane und Gabbe, konnte Luce noch immer das silberne Licht erkennen, das in alle Richtungen strahlte.
Sie hatten schließlich Penns leblosen Körper die steilen
Steinstufen hoch in die Kapelle getragen, die bunten Glassplitter und Scherben vom Altar gewischt und sie dort niedergelegt. Unmöglich würden sie Penn an diesem Morgen auf dem Friedhof beerdigen können - wo es von Menschen nur so wimmeln würde, wie Daniel Luce glaubhaft versicherte.
Es brach Luce fast das Herz, als sie sich in der Kapelle über ihre Freundin beugte, um ihr ein paar Abschiedsworte zuzuflüstern. Der einzige Gedanke, der sie tröstete, war: »Du bist jetzt bei deinem Vater. Er wird glücklich sein, dich wieder bei sich zu haben.«
Daniel würde Penn auf dem Friedhof beerdigen, sobald sich die Aufregung in der Schule wieder gelegt hatte - und Luce würde ihm zeigen, wo das Grab von Penns Vater war, damit sie an seiner Seite bestattet werden konnte. Diesen letzten Freundschaftsdienst konnte sie ihr wenigstens erweisen.
Luce spürte in sich eine unendliche Trauer, als sie gemeinsam über das Schulgelände schritten. Ihre Jeans und ihr Tanktop waren verschwitzt und schmutzig. Sie war müde, sie fühlte sich ganz klebrig und ihre Haare waren bestimmt auch total zerzaust. Sie wünschte sich so sehr, sie könnte den finsteren Teil der Nacht rückgängig machen, könnte Penny retten, das am allermeisten, und dabei trotzdem das Schöne behalten. Der überwältigende Augenblick, als sie erkannte, wer Daniel wirklich war. Der Moment, als er in all seiner Pracht und Herrlichkeit vor ihr erschienen war. Arriane und Gabbe mitsamt ihren Engelsflügeln - wie wunderschön das alles gewesen war.
Aber auch so viel Finsteres war geschehen, und so vieles davon hatte zu Tod und Zerstörung geführt.
Sie konnte es um sich herum spüren, es lag geradezu in der Luft. Und sie konnte es auf den Gesichtern der vielen
Schüler lesen, die ebenfalls schon auf dem Gelände unterwegs waren. So früh waren sie sonst nie wach, sie mussten alle irgendetwas gehört oder gesehen oder gespürt haben von der Schlacht, die in der Nacht getobt hatte. Wie viel sie wohl wussten oder ahnten? Ob sie schon nach Penn suchten? Oder nach Miss Sophia? Welche Gerüchte wohl die Runde machten? Die meisten waren zu zweit oder in Gruppen unterwegs und flüsterten aufgeregt miteinander. Luce hätte so gerne mitbekommen, was sie redeten.
»Keine Angst.« Daniel drückte ihr die Hand. »Guck einfach genauso neugierig wie die anderen. Niemand wird uns weiter beachten.«
Obwohl Luce das Gefühl hatte, dass alle sie anstarren müssten, hatte er vollkommen recht. Die anderen Schüler schenkten ihnen genauso wenig Aufmerksamkeit wie allen anderen.
Am Friedhofseingang blinkten die blau-weißen Lichter von Polizeiautos und tauchten die Umgebung in ein unwirkliches, fahles Licht. Das Tor war mit gelbem Plastikband versperrt.
Luce sah Randys schwarze Gestalt im Gegenlicht der aufgehenden Sonne. Sie ging vor dem Eingang auf und ab und schrie in ihr Headset.
»Sie sollten ihn aber aufwecken. Es gab an der Schule einen größeren Zwischenfall. Ich sage Ihnen doch … ich weiß es nicht.«
Daniel zog Luce von Randy und den blinkenden Polizeilichtern weg zu dem Eichenwäldchen, das den Friedhof an drei Seiten umgrenzte. »Vielleicht vorher eine kleine Warnung«, sagte er. »Es sieht da drin ziemlich merkwürdig aus. Cams Stil der Kriegsführung ist ziemlich chaotisch. Nicht blutrünstig, aber … befremdlich.«
Luce hatte nicht das Gefühl, als könnte sie noch viel
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