Engelsnacht
schockieren. Ein paar umgekippte Statuen würden sie jetzt nicht gerade aus der Fassung bringen. Sie gingen hintereinander zwischen den Bäumen hindurch, das Herbstlaub raschelte unter ihren Füßen. Luce erinnerte sich daran, wie sich am Abend vorher auf diesen Bäumen eine unheimlich zirpende Wolke von Schattenheuschrecken niedergelassen hatte. Von ihnen war jetzt nichts mehr zu sehen.
Daniel deutete auf einen Spalt in der hohen Mauer rings um den Friedhof.
»Hier können wir hinein, ohne gesehen zu werden. Wir müssen nur schnell machen.«
Als sie aus dem Schutz der Bäume traten, begriff Luce allmählich, was Daniel damit gemeint hatte, der Friedhof sehe anders aus. Sie standen beide am Rand der weiten, sich absenkenden Fläche, nicht weit entfernt vom Grab von Penns Vater an der Ostecke, aber man konnte fast nichts erkennen. Die Luft über den Gräbern war so dick und graubraun schmutzig, ja fast grobkörnig, dass man sie kaum mehr als Luft bezeichnen konnte. Sie musste mit den Händen hindurchfahren und sie vor sich teilen, nur um ein Stück weit schauen zu können.
Sie rieb die graubraune Masse zwischen ihren Fingern. »Ist das -«
»Staub«, sagte Daniel und nahm sie bei der Hand, als sie weitergingen. Er schien ganz einfach hindurchsehen zu können und musste nicht würgen und husten wie Luce. »Engel sterben im Krieg nicht, habe ich ja schon gesagt. Aber ihre Schlachten lassen einen dicken Staubteppich zurück.«
»Was geschieht damit?«
»Nicht viel, außer dass die Sterblichen damit leicht zu erschrecken sind. Er legt sich irgendwann, und dann transportieren
sie Wagenladungen davon ab, um sie in allen möglichen Labors untersuchen zu lassen. Es gibt da einen verrückten Wissenschaftler in Pasadena, der glaubt, dass er von UFOs stammt.«
Luce dachte mit einem Schauder an die unidentifizierbare schwarze Wolke von insektenähnlichen Flugobjekten. Dieser Wissenschaftler lag vielleicht gar nicht so falsch.
»Penns Vater ist da drüben begraben«, sagte sie und deutete zu dem Grab, an dem sie mit Penn gestanden hatte. So unheimlich die Atmosphäre auf dem Friedhof war, die Gräber, Statuen und Bäume schienen alle unversehrt. Luce fiel auf die Knie und wischte von dem Grabstein, von dem sie glaubte, dass es der richtige war, die Staubschicht fort. Ihre zitternden Finger legten die Buchstaben frei, die sie beinahe in Tränen ausbrechen ließen.
STANFORD LOCKWOOD
DER BESTE VATER DER WELT
Der Platz neben dem Grab von Mr Lockwood war frei. Luce richtete sich auf und stampfte verzweifelt mit dem Fuß auf. Sie hasste es, dass ihre Freundin bald dort unter der Erde liegen würde. Sie hasste sich, weil sie nicht mal dafür sorgen konnte, dass Penn ein schönes Begräbnis bekam.
Die Leute sprachen immer gleich vom Himmel, wenn jemand starb, als müssten die Toten alle dorthin aufsteigen. Luce hatte noch nie das Gefühl gehabt, die Regeln zu kennen, nach denen das alles funktionierte, und inzwischen glaubte sie weniger denn je, irgendetwas darüber zu wissen.
Sie drehte sich mit Tränen in den Augen zu Daniel. Seine Miene wurde ernst, als er ihren Kummer bemerkte. »Ich werde dafür sorgen, dass sie ein ordentliches Begräbnis erhält«,
sagte er. »Ich weiß, du hättest das gern selbst getan, aber wir werden unser Bestes tun.«
Die Tränen flossen jetzt über Luces Gesicht. Sie schluchzte und schniefte und wünschte sich Penn so heftig zurück, dass sie glaubte, ohnmächtig zu werden. »Ich kann sie nicht einfach verlassen, Daniel. Das kann ich nicht.«
Daniel wischte ihr mit dem Handrücken sanft die Tränen weg. »Es ist schrecklich, was mit Penn geschehen ist. Das hätte nicht passieren dürfen. Aber wenn du jetzt fortgehst, verlässt du sie nicht.« Er legte eine Hand auf Luces Herz. »Sie ist bei dir.«
»Aber ich kann doch nicht -«
»Doch, Luce, das kannst du.« Seine Stimme klang entschlossen. »Glaub mir. Du hast gar keine Ahnung, wie stark du bist und welche unmöglich erscheinenden Dinge du vollbringen kannst.« Er blickte von ihr weg, erst auf die Bäume, dann noch weiter in die Ferne. »Wenn in der Welt noch etwas Gutes geblieben ist, dann wirst du es bald erfahren.«
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Nicht weit von ihnen waren Schritte zu hören. »Was zum Teufel ist da vorne passiert … Ronnie, ruf in der Zentrale an. Der Sheriff soll hierherkommen.«
»Lass uns von hier verschwinden«, flüsterte Daniel und griff nach Luces Hand. Sie ließ ihre Linke in seine gleiten,
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