Engelsnacht
ihrem Kopf herrschte Chaos. Den ganzen Tag hatte sich so viel ereignet, was sie noch gar nicht verarbeitet hatte, so viele Leute hatten ihr so viele unterschiedliche Dinge erzählt. Jetzt schwebte der Dolch über ihrem Gesicht und
vor ihren Augen tauchten wieder die wandernden roten Flecken auf. Kurz darauf spürte sie die Spitze des Dolchs gegen ihren Brustkorb drücken, wo Miss Sophia mit ihm entlangfuhr, um die richtige Stelle zwischen ihren Rippen zu finden. Vielleicht war an Miss Sophias gehässiger, kranker Rede sogar etwas dran, dachte Luce. So viel Hoffnung in die Kraft der wahren Liebe - von der sie selbst gerade erst eine Ahnung bekam - zu setzen, war das nicht naiv? Wahre Liebe schön und gut, aber konnte man damit eine Schlacht gewinnen, wie sie soeben draußen tobte? Die Liebe konnte sie wahrscheinlich noch nicht einmal vor dem Tod hier auf dem Altar retten.
Aber das musste sie. Ihr Herz schlug immer noch mit aller Macht für Daniel - und solange das so war, glaubte irgendetwas tief in ihrem Innern an diese Liebe und an ihre Kraft, sie selbst und die Welt zu verwandeln. Daniel und sie würden gemeinsam etwas so Großes und Gutes stiften -
Luce schrie auf, als der Dolch ihr die Haut ritzte, und dann ein zweites Mal vor Überraschung, als das bunte Glasfenster über ihr zerbarst und alles von Licht und Lärm erfüllt war.
Ein überwältigend laut tönendes Summen. Eine blendende Helligkeit.
So war es also, wenn man gestorben war.
Der Dolch musste tiefer eingedrungen sein, als sie geglaubt hatte. Sie befand sich bereits auf der Reise an den Ort jenseits des Todes. Wie sonst hätte sie sich erklären sollen, dass strahlende, in allen Farben schillernde Gestalten über ihr schwebten, vom Himmel zu ihr herniederstiegen? Wie sonst hätte sie sich den Sternenregen erklären sollen? Das überirdische Leuchten? In dem gleißenden Licht war nur schwer etwas zu erkennen. Wie weicher Samt fühlte es sich
auf ihrer Haut an, wie Schnee. Die Knoten an ihren Knöcheln und Handgelenken wurden gelöst, sie konnte ihre Glieder wieder bewegen. Sie war frei, und gleich würde ihr Körper - oder vielleicht war es ja jetzt ihre Seele - in den Himmel emporfliegen.
Aber dann hörte Luce Miss Sophia aufschreien: »Noch nicht! Ihr seid zu früh dran!« Sie hatte den Dolch fallen gelassen.
Luce blickte hastig an sich hinab. Ihre Handgelenke. Losgebunden. Ihre Knöchel. Frei. Winzige blaue und rote und grüne und goldene Glassplitter bedeckten ihren Körper, den Altar, den Steinboden. Sie ritzten ihre Haut, als sie sie von den Armen wegwischte. Blut perlte daraus hervor. Luce spähte zu dem gähnenden Loch in der Decke hoch.
Also nicht tot, sondern gerettet. Von Engeln.
Daniel war ihr zu Hilfe gekommen.
Wo war er? Sie konnte kaum sehen. Sie wollte durch das Licht schreiten, bis ihre Fingerspitzen ihn fanden und ihre Hände sich dann um seinen Hals legten. Und danach würde sie ihn niemals, niemals, niemals mehr gehen lassen.
Nur die schillernden Gestalten waren um sie herum, die ihren Körper umschwebten. Als wäre der ganze Raum voller bunter, glänzender Federn. Sie versammelten sich um Luce, berührten ihren Körper an den Stellen, wo die Glassplitter sie geschnitten hatten. Licht umhüllte sie, das Blut auf den Armen und der kleine Blutfleck auf ihrer Brust verschwanden, bis sie völlig unversehrt war.
Miss Sophia war zur Rückwand der Kapelle gerannt und tastete hektisch die Mauer ab, um den Ziegelstein zu finden, mit dem sie die Geheimtür öffnen konnte. Luce wollte ihr nach, um sie aufzuhalten, sie wollte von Miss Sophia eine Antwort, sie wollte wissen, warum sie ihr das angetan hatte,
warum sie vorgehabt hatte, sie zu töten. Doch dann nahm das silbern glitzernde Licht allmählich eine violette Färbung an und formte sich zu den Umrissen einer männlichen Gestalt.
Die Kapelle erbebte. Ein Strahlen, so mächtig, dass es noch die Sonne übertrumpft hätte, ließ die Wände erzittern und die Kerzen in ihren schweren Bronzeleuchtern erlöschen. Die Wandteppiche schlugen wie bei heftigem Wind gegen die Mauern. Miss Sophia kauerte sich zusammen. Das pulsierende Licht erschütterte alles so stark, dass auch Luce am ganzen Körper erbebte. Und als das Licht sich dann bündelte und dabei den ganzen Raum erwärmte, fügte es sich zu der Gestalt zusammen, die Luce kannte und liebte.
Daniel stand vor ihr. Direkt vor dem Altar. Er war barfuß und nur in eine weiße Leinenhose gekleidet. Sein Oberkörper war nackt. Er
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