Engelsnacht
mit deinen Eltern in Verbindung setzen.«
»Mr Cole?«
»Er ist auf unserer Seite, Luce. Ihm kannst du vertrauen.«
Aber sie hatte auch Miss Sophia vertraut. Sie kannte Mr Cole kaum. Für sie war er immer nur ein strenger Lehrer gewesen. Und dann der Schnurrbart … Musste sie wirklich von Daniel Abschied nehmen? Und sollte sie dann mit ihrem Geschichtslehrer in dieses Flugzeug steigen? Ihr Herz klopfte.
»Es gibt da drüben einen Weg, direkt am Ufer entlang«, fuhr Daniel fort. »Den können wir nehmen.« Er zeichnete mit dem Finger eine geschwungene Linie auf ihren Rücken. »Oder«, schlug er vor, »wir könnten schwimmen.« Er fuhr ihr Rückgrat entlang.
Sie nahmen sich an der Hand und stellten sich gemeinsam ganz vorne an die Kante des Felsens. Ihre Schuhe hatten sie unter der Magnolie gelassen, aber diesmal würden sie nicht mehr zurückkommen. Luce hätte sich in diesem Augenblick etwas Schöneres ausmalen können, als in Jeans und Tanktop in den kalten See zu springen, aber sie brauchte nur
einen kurzen Blick zu Daniel zu werfen, der neben ihr stand und sie anlächelte, dann wusste sie, alles, was sie tat, war richtig.
Sie streckten die Arme zum Kopfsprung nach oben und Daniel zählte bis drei. Ihre Füße hoben im selben Moment vom Boden ab, ihre Körper vollführten denselben Bogen, aber anstatt gemeinsam ins Wasser einzutauchen, wie Luce erwartet hatte, zog Daniel sie nach oben, allein durch die Berührung seiner Fingerspitzen.
Sie flogen. Luce hielt in der Luft Händchen mit einem Engel und sie flog. Die Wipfel der Bäume schienen sich vor ihr zu verneigen. Ihr Körper fühlte sich leichter als Luft an. Die aufgehende Sonne war knapp über dem Wald immer noch als feuriger Ball sichtbar. Sie schwebten direkt darauf zu. Das Wasser des Sees funkelte unter ihnen in den Morgenstrahlen.
»Jetzt?«, fragte Daniel.
»Jetzt«, antwortete Luce.
Und dann steuerten sie auf die Wasseroberfläche zu, berührten sie erst sachte, bevor sie ganz eintauchten. Luce schnappte erschrocken nach Luft, als sie wieder hochkamen, so kalt war das Wasser, aber dann lachte sie.
Daniel griff wieder nach ihrer Hand und machte ihr danach ein Zeichen, ihm auf den Felsen zu folgen. Er stemmte sich selbst zuerst hoch, beugte sich dann zu ihr herunter und zog sie hinaus. Das Moos bildete einen weichen, zarten Teppich für sie, auf dem sie sich ausstreckten. Daniels schwarzes T-Shirt klebte nass an seinem Oberkörper. Sie drehten sich auf die Seite, sodass sie sich anschauen konnten, stützten sich auf ihren Ellenbogen ab.
Daniel legte die Hand auf ihre Hüfte. »Mr Cole wartet im Flugzeug bereits«, sagte er. »Das ist unsere letzte Gelegenheit,
allein zu sein. Ich wollte mich lieber hier richtig verabschieden.« Er küsste sie sanft.
»Ich möchte dir etwas geben«, sagte er dann, langte in seinen Halsausschnitt, zog den Silberanhänger heraus, den Luce ihn immer hatte tragen sehen, und nahm die Kette ab. Er drückte Luce das Schmuckstück in die Hand, und sie erkannte zum ersten Mal, das es ein Medaillon mit einer eingravierten Rose auf dem Deckel war. »Es hat früher einmal dir gehört«, sagte er. »Aber das ist schon lange her.«
Luce klappte das Medaillon auf und betrachtete die winzige Fotografie unter dem Glas. Ein Bild von ihnen beiden. Sie schauten nicht in die Kamera, sondern sich gegenseitig tief in die Augen. Und sie lachten. Luces Haare waren kurz geschnitten, nicht viel anders jetzt, und Daniel trug eine Fliege.
»Wann ist das aufgenommen worden?«, fragte sie. »Wer sind wir da?«
»Das erzähle ich dir das nächste Mal«, sagte er. Daniel streifte Luce die Kette über den Kopf. Als das Medaillon ihr Schlüsselbein streifte, spürte sie eine pulsierende Wärme in ihren ganzen Körper ausstrahlen. Ihr war, als würde sie nun nie mehr frösteln und sich einsam fühlen.
»Danke«, hauchte sie und legte die Hand über das Medaillon.
»War auch höchste Zeit«, meinte er. »Schließlich hat Cam dir ja auch eine Kette geschenkt.«
Die goldene Kette mit dem Schlangenanhänger, die Cam ihr vor der Bar umgelegt hatte, ob sie wollte oder nicht, hatte Luce ganz vergessen. Sie konnte gar nicht glauben, dass das erst vor zwei Tagen gewesen war. Der Gedanke, sie um den Hals getragen zu haben, ließ sie erschaudern. Sie wusste nicht einmal, wo die Kette jetzt eigentlich war - und wollte es auch nicht wissen.
»Er hat mich überrumpelt«, sagte sie schuldbewusst. »Ich wollte sie nicht -«
»Ich weiß«, sagte Daniel.
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