Engelsnacht
Luces Magen drehte sich mit ihm. Aber schon im nächsten Moment beruhigte sich alles wieder, und sie stiegen gleichmäßig in die Höhe empor, unter ihnen die Bäume, über ihnen der strahlende Morgenhimmel. Luce blickte auf den funkelnden See hinab, dessen Wasserfläche sich allmählich entfernte. Sie hatten nach Westen abgehoben, aber bald beschrieb das Flugzeug einen Kreis, und Luces Fenster war nun ganz von dem Wald erfüllt, durch den Daniel erst vor Kurzem mit ihr geflogen war. Sie schaute hinab, presste das Gesicht gegen die Scheibe, um ihn vielleicht noch ein letztes Mal zu sehen, und bevor das Flugzeug wieder gerade weiterflog, glaubte sie dort unten einen violetten Lichtschimmer zu entdecken. Sie umklammerte das Medaillon an ihrem Hals und führte es an ihre Lippen.
Jetzt war das Schulgelände unter ihnen zu sehen, und direkt daneben der in einen Nebel aus dichtem Staub gehüllte Friedhof. Der Ort, wo Penn bald beerdigt werden würde. Je höher sie kamen, desto besser hatte sie die gesamte Schule im Blick. Ausgerechnet hier, an der Sword & Cross, war das
große Geheimnis ihres Lebens gelüftet worden - und vollkommen anders, als sie sich das jemals ausgemalt hatte.
»Die haben es da ja ganz schön knallen lassen«, sagte Mr Cole kopfschüttelnd.
Luce hatte keine Ahnung, wie viel er von den Geschehnissen der vergangenen Nacht wusste. Er wirkte so bieder und normal, und gleichzeitig nahm er die ungewöhnlichsten Ereignisse ganz cool und locker.
»Wohin fliegen wir?«
»Zu einer kleiner Insel vor der Küste«, sagte er, in Richtung Ozean deutend, wo der Horizont eine dunklere Färbung annahm. »Gar nicht weit weg.«
»Mr Cole«, begann Luce unsicher, »Sie haben doch meine Eltern kennengelernt.«
»Ja. Nette Menschen.«
»Kann ich sie denn … ich würde gerne bald mit ihnen reden.«
»Natürlich. Da finden wir einen Weg.«
»Sie würden mir das alles nie glauben.«
»Und du selbst?«, fragte er mit einem kleinen Lächeln, während das Flugzeug höher und höher stieg, bis es seine Flughöhe erreicht hatte.
Tja. Das war es. Sie hatte gar keine andere Wahl, sie musste das alles glauben - alles. Vom ersten finsteren Flackern der Schatten über Daniels Kuss bis hin zu Penns Leichnam auf dem weißen Marmoraltar in der Kapelle. Das alles musste wirklich geschehen sein.
Wie könnte sie sonst durchhalten, bis sie Daniel endlich wiedersah? Sie fasste erneut nach dem Medaillon an ihrem Hals, diesem Schatz der Erinnerungen an ein Leben. Ihre Erinnerungen, hatte Daniel gesagt. Ihre Erinnerungen, die noch etwas Zeit brauchten, bis sie wieder lebendig wurden.
Was sie bereithielten, wusste sie nicht. Genauso wenig, wie sie wusste, wohin Mr Cole sie brachte. Aber sie hatte sich an diesem Morgen gefühlt, als hätte sie Anteil an etwas Wichtigen und Großen, wie sie da mit Arriane und Gabbe und Daniel in der Kapelle stand. Nicht verloren und ängstlich und nur um sich selbst kreisend … sondern irgendwie, als wäre sie ihnen wichtig, nicht nur Daniel, sondern allen anderen auch.
Sie blickte nach vorne durch die Cockpitscheibe. Sie mussten jetzt das Sumpfland bereits überflogen haben, die Straße, die am Fluss entlang zu der schäbigen Bar führte, wo Cam auf sie gewartet hatte, und danach weiter zu dem lang gestreckten, schmalen Sandstrand, wo sie Daniel das erste Mal geküsst hatte. Jetzt waren sie über der offenen See, und irgendwo da draußen lag die Insel, von der Mr Cole gesprochen hatte. Ihr nächstes Ziel.
Niemand hatte Luce wirklich eingeweiht und ihr angekündigt, dass es weitere Schlachten geben würde, aber sie spürte es. Sie spürte, dass sie am Anfang eines langen und harten und alles entscheidenden Kampfes standen.
Gemeinsam.
Und egal, wie diese Schlachten enden mochten, in Zorn oder Versöhnung, Luce wollte nicht länger nur Zuschauerin sein, sie wollte nicht mehr von anderen hin und her geschoben werden. Ein mächtiges, starkes Gefühl durchflutete sie, das sich aus all ihren vergangenen Leben speiste, aus der Liebe, die sie mit Daniel verband und die viel zu oft von anderen zerstört worden war.
Sie wollte jetzt kämpfen. Sie würde an seiner Seite stehen und dafür kämpfen, ein erfülltes Leben mit ihm führen zu können. Sie würde kämpfen, damit überdauerte, was einzig und allein alle Gefahren und allen Kampf wert war.
Die Liebe.
Epilog
Engelsnacht
Die ganze Nacht lang beobachtete er ihren unruhigen Schlaf auf dem schmalen Feldbett. Eine Armeelaterne, die an einem der
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