Engelsnacht
»Was auch immer zwischen Cam und dir geschehen sein mag, es war nicht deine Schuld. Er hat immer noch viel von seinem Engelcharme behalten, obwohl er die Seite gewechselt hat, was ich natürlich unfair finde.«
»Hoffentlich sehe ich ihn nie wieder.« Wieder durchfuhr Luce ein Schauder.
»Ich fürchte fast, das wirst du. Außerdem gibt es viele, die wie Cam sind. Du wirst lernen müssen, deinem Gefühl mehr zu vertrauen«, sagte Daniel. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis du dich nach und nach an alles erinnerst, was wir in der Vergangenheit gemeinsam erlebt haben. Aber bis es so weit ist, solltest du immer dem folgen, was dein Instinkt dir sagt, auch wenn du sonst nicht viel weißt. Du wirst dich wahrscheinlich selten täuschen.«
»Ich soll also mir selbst vertrauen, weil ich den Leuten um mich herum nicht vertrauen kann?«, fragte Luce. Sie hatte das Gefühl, das war es, was Daniel ihr damit sagen wollte.
»Ich werde versuchen, bei dir zu sein, wenn du mich brauchst. Aber das ist vielleicht nicht immer möglich«, sagte Daniel. »Und ich werde zu dir sprechen, so oft ich kann, du wirst schon sehen. Du trägst die Erinnerung an deine vergangenen Leben in dir, Luce … auch wenn sie dir noch nicht zugänglich ist. Wenn sich etwas für dich nicht richtig anfühlt, lass es bleiben. Sei auf der Hut.«
»Und du? Wohin gehst du? Was wirst du tun?«
Daniel blickte zum Himmel hoch. »Als Erstes muss ich Cam finden«, sagte er. »Wir haben noch einiges miteinander auszufechten.«
Die Mischung aus Verbitterung und Entschlossenheit in
seiner Stimme beunruhigte Luce. Sie hatte die dicke graue Staubschicht im Friedhof vor Augen.
»Aber danach kommst du zu mir zurück«, flehte sie ihn an. »Versprichst du mir das?«
»Ich … ich kann ohne dich nicht leben, Luce. Ich liebe dich. Und das ist nicht nur für mich wichtig, sondern …« Er zögerte, dann schüttelte er den Kopf. »Nicht nötig, dass du dir über all das jetzt den Kopf zerbrichst. Ja, ich werde kommen, das verspreche ich dir.«
Langsam und widerwillig standen sie auf. Die Sonne war inzwischen höher gestiegen und tauchte alles in ein golden schimmerndes Licht. Bis zum anderen Ufer des Sees war es nicht weit und von dort aus würde sie ein Trampelpfad bis zum Flugzeug führen. Luce wünschte, das Ufer wäre noch unendlich weit entfernt. Sie hätte neben Daniel bis in die Abenddämmerung schwimmen können. Und durch jeden Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, der darauf folgte.
Sie sprangen gemeinsam zurück ins Wasser und begannen im gleichen Augenblick im Schmetterlingsstil zu schwimmen. Luce hatte vorher noch das Medaillon fest unter ihr Tanktop gesteckt. Ihr Instinkt, dem sie in Zukunft folgen sollte, sagte ihr eines in aller Deutlichkeit bereits jetzt: Von diesem Medaillon würde sie sich nie trennen.
Mit bewundernden Blicken sah sie Daniel nach, wie er mit eleganten Bewegungen durchs Wasser glitt, mehr schwebte als schwamm. Sie wusste jetzt, dass die in allen Regenbogenfarben schillernden Schwingen, die sich von feinen Tröpfchen benetzt aus dem Wasser hoben, kein Produkt ihrer Fantasie waren. Sie waren wirklich.
Danach konzentrierte sich Luce ganz auf ihr eigenes Schwimmen. Zug um Zug stieß sie sich durchs Wasser voran. Viel zu früh gelangte sie ans Ufer. Das Brummen der
Flugzeugmotoren war zu hören, obwohl es bis zu dem Hügel noch ein Stück war, wenn auch nicht mehr weit. Sie hatten jetzt gleich den Ort erreicht, an dem sie sich trennen würden, und Daniel musste Luce aus dem Wasser tragen, eine solche Lähmung hatte sie plötzlich befallen. Noch vor wenigen Augenblicken hatte sie sich so glücklich gefühlt und jetzt war sie ein nasses, trauriges Häufchen Elend. Danach gingen sie eng umschlungen bis zum Flugzeug.
Zu Luces großer Überraschung streckte Mr Cole ihr ein großes weißes Handtuch hin, nachdem er aus dem Cockpit gesprungen war. »Ein kleiner Engel hat mir gesagt, dass du das vielleicht brauchen würdest«, sagte er und legte es Luce galant um die Schultern.
»Wer soll da ein kleiner Engel sein?« Arriane tauchte mit einem Mal hinter einem Baum auf, gefolgt von Gabbe, die das alte Buch über das Wächteramt der Engel in der Hand hielt.
»Wir sind gekommen, um dir eine gute Reise zu wünschen«, sagte Gabbe und überreichte Luce das Buch. »Hier«, meinte sie fröhlich, aber ihre Miene war ernst.
»Gib ihr die Verpflegung«, forderte Arriane sie mit einem leichten Stoß in die Rippen auf.
Gabbe holte eine
Weitere Kostenlose Bücher