Engelsnacht
Kinns. Sie wollte nicht dabei ertappt werden, wie sie ihn anstarrte. Sie wollte ihm nicht noch einmal die Gelegenheit geben, ihr den Mittelfinger zu zeigen und das Band zwischen ihnen zu zerschneiden.
»Da mach dir mal keine Sorgen.« Arriane lachte. »Der ist so auf seinen Hamburger fixiert, der würde noch nicht mal den Ruf des Teufels hören.« Sie zeigte auf Daniel, der tatsächlich so aussah, als wäre er ausschließlich mit seinem Hamburger beschäftigt. Falsch. Er sah aus wie jemand, der so tat, als wäre er ausschließlich mit seinem Hamburger beschäftigt.
Luce blickte auf die andere Seite des Tisches zu Daniels Freund Roland. Er starrte sie an. Als ihre Blicke sich kreuzten, zog er die Augenbrauen hoch, aber auf eine Art und Weise, aus der Luce nicht schlau wurde und die ihr sogar ein bisschen Angst machte.
Sie drehte sich wieder zu Arriane. »Warum sind alle an dieser Schule so seltsam?«
»Ich fasse das jetzt mal nicht als Beleidigung auf«, sagte Arriane, nahm ein Plastiktablett und reichte auch Luce eines. »Und ich werde dir jetzt eine kleine Einführung in die große Kunst geben, den richtigen Platz in der Cafeteria zu wählen. Denn schließlich willst du ja nicht in der Nähe der - pass auf, Luce!«
Luce machte erschrocken einen Schritt rückwärts, da erhielt sie auch schon ein heftigen Stoß. Gleich würde sie zu Boden gehen. Sie streckte die Hände aus, um sich irgendwo abzustützen. Aber alles, worauf sie traf, war das volle Essenstablett eines Mitschülers. Luce und das Tablett fielen hin und ein Teller Borschtsch schwappte über ihr Gesicht.
Als sie sich das zerkochte rote Gemüse aus den Augen gewischt hatte, schaute Luce hoch. Der wütendste Kobold, den sie je gesehen hatte, stand vor ihr. Das Mädchen hatte eine weißblonde Stoppelfrisur, mindestens zehn Piercings im Gesicht und einen Blick, der töten konnte. Sie fuhr Luce wie ein knurrender Hund an: »Wenn dein Anblick mir nicht den Appetit verdorben hätte, müsstest du mir jetzt sofort ein neues Mittagessen kaufen.«
Luce stammelte eine Entschuldigung. Sie versuchte aufzustehen, aber das Mädchen bohrte ihr den Absatz ihres hochhackigen schwarzen Stiefels in den Fuß. Schmerz schoss ihr das Bein hoch und sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien.
»Aber ich kann mir auch einen Gutschein geben lassen«, fuhr das Mädchen fort.
»Schon gut, Molly, das reicht jetzt«, sagte Arriane. Sie bückte sich, um Luce aufzuhelfen.
Luce stöhnte. Der spitze Absatz würde einen riesigen blauen Fleck hinterlassen.
Molly stellte sich breitbeinig vor Arriane hin, und Luce hatte das Gefühl, dass die beiden sich nicht das erste Mal in die Haare kriegten.
»Gleich Freundschaft mit einem Neuzugang geschlossen, wie?«, spottete Molly. »Das war aber sehr unartig von dir, A. Bist du nicht auf Bewährung?«
Luce schluckte. Arriane hatte nichts von einer Bewährungszeit erwähnt, und warum sollte es da verboten sein, neue Freundschaften zu schließen? Aber das Wort genügte, um Arriane die Faust ballen zu lassen und auszuholen. Und schon hatte Molly von ihr einen fetten Boxhieb aufs rechte Auge verpasst bekommen.
Molly wankte nach rückwärts, aber nicht sie, sondern Arriane zog Luces Aufmerksamkeit auf sich. Ihr ganzer Körper begann zu zucken, sie warf die Arme hoch, bewegte sie ruckartig hin und her.
Es war das Armband am rechten Handgelenk, stellte Luce voller Entsetzen fest. Von ihm wurden Schockwellen durch Arrianes Körper geschickt. Das konnte doch nicht wahr sein! Luce wurde ganz schlecht angesichts der grausamen und ungewöhnlichen Bestrafung. Sie fing Arriane auf, als sie zu Boden sank.
»Arriane«, flüsterte Luce, »alles in Ordnung?«
»Super.« Arrianes Lider flackerten, ihre Augen öffneten sich kurz und schlossen sich dann wieder.
Luce hielt den Atem an. Dann klappte eines von Arrianes Augen wieder auf. »Hab ich dich erschreckt? Ist ja süß! Keine Sorge, die Elektroschocks bringen mich nicht um«, flüsterte sie. »Sie machen mich nur noch stärker. Egal. Der dummen Kuh ein blaues Auge zu verpassen, war es jedenfalls wert.«
»Hört auf damit! Hört sofort damit auf!«, brüllte eine heisere Stimme hinter ihnen.
Randy stand im Eingang, außer Atem und mit knallrotem Gesicht. Es war zu spät, um noch rechtzeitig aufzuhören, dachte Luce. Aber da sah sie, wie Molly näher kam, die Absätze ihrer Stiefel klackten auf dem Boden. Dieses Mädchen kannte keine Grenzen. Würde sie wirklich nach Arriane
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