Engelsnacht
Schule das bereits wüsste. Dieses Mädchen tat wahrscheinlich nur so unwissend, damit Luce ihr die demütigende Szene erzählte und das Ganze noch mal durchlebte.
»In fünf Minuten weißt du’s«, antwortete sie schärfer als
beabsichtigt. »Ich bin mir sicher, dass sich Klatsch und Tratsch hier wie die Cholera ausbreitet.«
»Willst du dir mein Make-up ausleihen?«, fragte Gabbe und hielt ein himmelblaues Kosmetiktäschchen hoch. »Du hast dich wahrscheinlich noch nicht im Spiegel gesehen, aber du solltest -«
»Danke, nein«, unterbrach sie Luce und drängte an ihr vorbei in die Mädchentoilette. Ohne einen Blick in den Spiegel zu werfen, drehte sie den Wasserhahn auf. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht - und dann gab es für sie kein Halten mehr. Die Tränen flossen ihr über die Wangen, während sie sich mit der billigen rosa Handseife die Suppenreste abwusch. Aber in ihren Haaren klebte immer noch das Hackfleisch. Und auch ihre Kleidung hatte schon mal besser gerochen und ausgesehen. Nicht dass sie sich jetzt noch groß Gedanken darüber machen musste, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen.
Die Tür ging auf und Luce presste sich wie ein gefangenes Tier gegen die Wand. Als ein unbekanntes Mädchen hereinkam, war sie auf das Schlimmste gefasst.
Das Mädchen war ziemlich kräftig gebaut, was durch übertrieben viele Kleiderschichten noch betont wurde. Ihr breites Gesicht wurde von kurzen braunen Locken umrahmt und sie hatte eine große rote Brille auf der Nase. Eigentlich wirkte sie ungefährlich, aber das Aussehen konnte leicht täuschen. Die Hände hatte sie hinter dem Rücken versteckt, was für Luce nach den Erfahrungen dieses ersten Tages nur hieß, dass sie ihr besser nicht trauen sollte.
»Du weißt, dass du dich ohne einen Erlaubnisschein nicht hier aufhalten darfst«, sagte das Mädchen. Ihr strenger Tonfall ließ darauf schließen, dass es ihr ernst war.
»Ich weiß.« Der Ausdruck in den Augen des Mädchens
bestätigte Luces Verdacht, dass es in dieser Schule absolut unmöglich war, auch nur einen Moment lang irgendwo seine Ruhe zu haben. Sie setzte seufzend zu einer Entschuldigung an. »Ich wollte bloß -«
»War doch nur Spaß.« Das Mädchen lachte, verdrehte die Augen und nahm eine entspannte Haltung an. »Hier, ich hab für dich etwas Shampoo geklaut«, sagte sie und zog die Hände hinter dem Rücken hervor. Sie hielt Luce zwei unschuldig aussehende Plastikfläschchen mit Shampoo und Pflegespülung hin. »Dann mal los. Lass uns anfangen. Am besten, du setzt dich hier drauf.« Sie zog einen Klappstuhl zum Waschbecken.
Ein seltsamer Laut, halb Wimmern, halb Lachen, kam über Luces Lippen. So hört sich wohl Erleichterung an, dachte sie. Dieses Mädchen war einfach nur nett zu ihr - nicht nur vergleichsweise nett, für die Schüler in einer Besserungsanstalt nämlich, sondern nett wie eine ganz normale Person. Aus keinem besonderen Grund. Dieser Schock war für Luce beinahe zu groß. »Danke«, brachte sie leise heraus, immer noch sehr vorsichtig.
»Ach ja, und wahrscheinlich brauchst du auch was Neues zum Anziehen«, sagte das Mädchen. Sie musterte ihren schwarzen Sweater und zog ihn sich über den Kopf. Darunter kam noch einmal ein Exemplar von der gleichen Sorte zum Vorschein.
»Was denn?«, fragte sie, als sie den überraschten Ausdruck auf Luces Gesicht sah. »Ich habe ein empfindliches Immunsystem. Ich muss viele Schichten übereinander tragen.«
»Aber wirst du dann ohne den zurechtkommen?«, hörte Luce sich fragen, obwohl sie alles in der Welt getan hätte, um aus ihrem Sweater mit den Hackfleischkrümeln und Borschtschspritzern herauszukommen.
»Natürlich«, sagte das Mädchen. »Ich hab darunter noch drei weitere an. Und außerdem noch welche in meinem Schließfach. Du kannst das ruhig annehmen. Es schmerzt mich einfach zu sehr, wenn eine Vegetarierin mit Hackbraten in den Haaren und auf dem Sweater herumlaufen muss. Ich kann das nicht mit ansehen. Ich bin nämlich sehr sensibel.«
Luce wunderte sich, wie das fremde Mädchen über ihre Essgewohnheiten Bescheid wissen konnte. Aber sie wunderte sich nicht nur darüber. Sie konnte nicht anders, sie musste sie fragen: »Ähm, sag mal, warum bist du eigentlich so nett zu mir?«
Das Mädchen lachte, seufzte und schüttelte den Kopf. »Nicht jeder auf der Sword & Cross ist D & B.«
»Häh?«, machte Luce.
»Doof & Bekloppt. So nennen sie in der Stadt die Sword & Cross. Es gibt auch noch andere, weniger
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