Engelsnacht
Vorfall in der Cafeteria nur halb so tragisch gewesen sei. Stattdessen stand sie nun allein im Flur und wusste immer weniger, wie sie das, was an diesem Tag geschehen war, bewerten sollte. Allmählich stieg Panik in ihr auf, als sie merkte, wie einsam sie an diesem Ort war. Und die Finsternis um sie herum verstärkte dieses Gefühl noch.
Hinter ihr ging eine Tür auf. Ein weißer Lichtstreifen fiel auf den Flur und reichte bis zu ihren Füßen. Musik erklang.
»He, was machst du da?« Es war Roland, in einem ausgeleierten weißen T-Shirt und Jeans stand er im Türrahmen seines Zimmers. Seine Dreadlocks waren mit einem gelben Gummi zusammengebunden und er hielt eine Mundharmonika in der Hand.
»Ich bin gekommen, um Arriane zu besuchen«, sagte Luce, die sich stark zusammennehmen musste. Zu gerne hätte sie an ihm vorbeigeschielt, ob nicht noch jemand anders im Zimmer war. »Wir haben uns heute Vormittag -«
»Niemand da«, sagte Roland und ließ dabei offen, ob er Arriane meinte oder alle anderen hier im Wohnheim oder sonst wen. Er spielte ein paar Takte auf seiner Mundharmonika und schaute sie dabei die ganze Zeit an. Dann schob er seine Tür etwas weiter auf und blickte sie fragend an. Sie hätte nicht sagen können, ob das als Einladung gemeint war oder nicht.
»Na dann, ich war sowieso auf dem Weg in die Bibliothek.« Und nach dieser hastig vorgebrachten Lüge war sie bereits ein paar Schritte davon. »Ich bin auf der Suche nach einem ganz bestimmten Buch.«
»Luce«, rief Roland ihr nach.
Sie drehte sich um. Roland und sie hatten bisher noch nicht miteinander geredet und es überraschte sie, dass er ihren Namen wusste. Seine Augen lächelten. Er zeigte mit der Mundharmonika in die andere Richtung. »Da entlang. Du solltest dir mal angucken, was sie dort alles haben. Vor allem im Ostflügel, wie sie das nennen. Echt was Besonderes.«
»Danke«, sagte Luce und meinte es auch so. Roland schien ein wirklich guter Kumpel zu sein, wie er da im Flur stand und ihr noch ein paar Takte auf der Mundharmonika vorspielte, während sie jetzt in der richtigen Richtung davonging. Vielleicht hatte er sie am Vormittag ja nur so nervös gemacht, weil er Daniels Freund war. Eigentlich schien er richtig nett zu sein. Ihre Stimmung hellte sich etwas auf, als sie durch den Korridor weiterging. Zuerst Arrianes Brief, der wunderbar bissig und sarkastisch gewesen war; dann die gar nicht so unfreundliche Begegnung mit Roland Sparks;
und außerdem wollte sie wirklich gerne in die Schulbücherei. Ein paar Lichtblicke gab es ja doch.
Kurz vor dem Ende des Flurs, bevor man in die Bibliothek abbog, kam Luce an der einzigen Tür vorbei, die einen Spalt offen stand. Sie war überhaupt nicht dekoriert, aber dafür hatte sie jemand komplett schwarz gestrichen. Als sie daran vorbeiging, konnte Luce hören, dass drinnen laut Heavy Metal dröhnte. Sie brauchte nicht stehen zu bleiben, um den Namen neben der Tür lesen. Sie wusste auch so, dass es Mollys Zimmer war.
Luce ging automatisch schneller, jeder Schritt ihrer schwarzen Reiterstiefel auf dem Linoleum hallte ihr plötzlich in den Ohren. Erst als sie die Tür zur Schulbücherei aufgestoßen hatte und drinnen tief ausatmete, merkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte.
Ein Gefühl der Befreiung überkam Luce, als sie sich in der Bibliothek umblickte. Räume voller Bücher hatte sie schon immer geliebt. Den leicht süßlichen Geruch nach Staub, den die Bücher in den Regalen verströmten. Das sanfte Rascheln der beim Lesen umgeblätterten Seiten. Die Schulbücherei war in Dover immer ihr geheimer Zufluchtsort gewesen, und Luce verspürte eine unglaubliche Erleichterung, als sie feststellte, dass das auch hier der Fall sein würde. Sie konnte es fast nicht glauben, dass dieser Ort hier zur Sword & Cross gehörte. Er wirkte fast … ach was, er war richtig einladend.
Die hohen Wände waren mit Mahagoniholz verkleidet und an einer Seite befand sich ein offener, gemauerter Kamin. Auf den schweren langen Holztischen standen altmodische grüne Leselampen, und so weit das Auge reichte, erstreckten sich Regale voller Bücher. Ein dicker Teppich dämpfte ihre Schritte.
Einige wenige Schüler saßen lesend an den Tischen, ein
paar Gesichter hatte Luce am Vormittag bereits gesehen, aber ihre Namen wusste sie nicht. Aber selbst die Typen mit den Punkfrisuren wirkten weniger bedrohlich, wenn sie die Köpfe über Bücher gebeugt hatten. Luce steuerte auf die Mitte des Raums zu, wo sich ein
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