Engelsnacht
Gitterstäben hindurch auf das im Mondlicht daliegende Schulgelände war nicht ohne Reiz - nur durfte sie nicht daran denken, dass der Friedhof daran angrenzte. Es gab in dem Raum einen Schrank und ein kleines Waschbecken, außerdem einen Schreibtisch für die Hausaufgaben - wenn sie es so recht bedachte, war der traurigste Anblick in dem ganzen Zimmer ihr Spiegelbild, das ihr aus dem hohen, schmalen Spiegel an der Rückseite der Tür entgegensah.
Sie schaute schnell weg, ein kurzer Eindruck hatte ihr gereicht. Ihr Gesicht wirkte müde und verhärmt. Ihre haselnussbraunen Augen waren matt und stumpf. Ihre Haare hätten mit dem Fell ihres hysterischen Familienzwergpudels nach einem Gewittersturm mithalten können. Penns Sweater hing an ihr wie ein Kartoffelsack. Sie zitterte am ganzen Körper. Der Unterricht am Nachmittag war noch schwerer zu ertragen gewesen als am Vormittag, was vor allem daran lag, dass ihr schlimmster Albtraum wahr geworden war: Die
ganze Schule nannte sie bereits Hackepeter. Der Name klebte an ihr wie vorher die Hackfleischkrümel.
Sie hatte eigentlich vorgehabt auszupacken, um die gesichtslose Schlafzelle Nummer 63 in ihr eigenes Reich zu verwandeln, in dem sie sich wohlfühlte. In einen Ort, der ihre Zuflucht sein konnte. Aber sie schaffte es gerade so, den Reißverschluss ihrer Tasche aufzuziehen, bevor sie auf dem noch nicht überzogenen Bett in Tränen ausbrach. Sie fühlte sich so weit weg von zu Hause. Mit dem Auto brauchte man nur zweiundzwanzig Minuten, um von der weißen Gartentür vor dem Haus ihrer Eltern zu dem rostigen schmiedeeisernen Tor der Sword & Cross zu gelangen - aber es hätten genauso gut zweiundzwanzig Jahre sein können.
Während der ersten Hälfte der schweigsamen Fahrt mit ihren Eltern am Morgen hatte die Umgebung rechts und links noch vollkommen vertraut gewirkt: kaum aus dem Schlaf erwachte, typisch amerikanische Mittelklasse-Wohnviertel.
Aber dann hatte die Straße über den Damm weiter in Richtung Küste geführt, und das Gelände war immer sumpfiger geworden. Ein kleiner Mangrovenhain markierte den Beginn des eigentlichen Sumpfgeländes, doch bald wurden auch die Mangroven immer seltener. Die letzten zehn Meilen waren trist und trostlos. Graubraun, eintönig, menschenleer. Zuhause in Thunderbolt hatten die Leute immer Witze über den seltsamen modrigen Geruch gerissen, der einem dort in die Nase stieg: Woran erkennt man, dass man sich im Sumpfgebiet befindet? Daran, dass die Abgase nicht mehr aus dem Auspuff kommen.
Obwohl Luce in Thunderbolt aufgewachsen war, hatte sie mit ihren Eltern nur ganz selten Ausflüge in diesen östlichen Teil der Region unternommen. Als Kind hatte sie das
nicht weiter verwundert, gab es doch keinen Grund, hierherzukommen - alle Geschäfte, ihre Schule und alle ihre Freunde und Bekannten befanden sich im Westen. Der Osten war einfach uninteressant. Es gab dort nichts.
Sie vermisste ihre Eltern, die auf das T-Shirt ganz oben in der Tasche ein Post-it geklebt hatten, noch kurz vor der Abfahrt: Wir lieben dich! Eine mit so viel Kraft wie wir gibt nie auf! Sie vermisste ihr Zimmer, von dem aus sie auf die Tomatensträucher ihres Vaters sehen konnte. Sie vermisste Callie, die ihr bestimmt schon mindestens zehn SMS geschickt hatte, die sie nie lesen würde. Sie vermisste Trevor …
Nein, das stimmte nicht ganz. Sie vermisste nicht ihn, sie vermisste das Lebensgefühl, das sich seit dem Frühjahr in ihr ausgebreitet hatte. Als es plötzlich jemanden gab, an den sie denken konnte, wenn sie nachts wachlag; jemanden, dessen Namen sie mit vielen Schnörkeln in ihre Hefte malen konnte. Sie und Trevor hatten nämlich überhaupt nicht die Chance gehabt, sich so gut kennenzulernen, dass Luce ihn wirklich vermissen konnte. Das einzige Andenken, das Luce hatte, war das Foto, das Callie heimlich von der anderen Seite des Fußballplatzes aus gemacht hatte, als sie und Trevor während seines Trainings zwischen zwei Einheiten Kniebeugen fünfzehn Sekunden miteinander geredet hatten … über sein Training. Und ihr einziges Date war noch nicht einmal ein richtiges Date gewesen - sondern nur ein gestohlener Augenblick, vielleicht eine halbe Stunde, als er sie von der Party weggezogen hatte. Eine halbe Stunde, die sie für den Rest ihres Lebens bereuen würde.
Alles hatte so harmlos angefangen, zwei Jugendliche, die an einem See spazieren gingen. Bald aber hatte Luce über ihren Köpfen die Schatten lauern sehen. Dann berührten Trevors Lippen ihre,
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