Engelsnacht
sie. In dem Traum war es tief in der Nacht gewesen, dunkel, nass und kalt. Sie hatte in einem langen, fließenden Gewand an einem Fenster gestanden. In einem Zimmer, das ihr völlig fremd war. Ein Vorhang. Und die einzige andere Person im Raum war ein Mann gewesen … oder ein Junge - sie hatte sein Gesicht nicht zu sehen bekommen. Er zeichnete ihr Porträt. Ihre Haare, ihren Hals, ihr Profil. Sie stand hinter ihm, unfähig sich zu regen. Sie wollte nicht, dass er bemerkte,
wie sie ihn beobachtete, aber sie schaffte es auch nicht, sich abzuwenden. Wie gebannt schaute sie ihm zu.
Luce machte einen Satz nach vorne, als sie spürte, dass etwas ihre Schulter berührte und dann über ihrem Kopf lauerte. Die Schatten waren wieder aufgetaucht. Sie waren schwarz und schwer wie ein dicker Samtvorhang.
Ihr Herz pochte so laut, dass ihr davon die Ohren dröhnten. Das düstere Rascheln der Schatten, das Geräusch ihrer eigenen Schritte wurde davon übertönt. Daniel blickte von seinem Skizzenblock hoch, seine Augen richteten sich einen Moment genau auf die Stelle, wo die Schatten hingen, aber er erschrak nicht.
Warum auch, er konnte sie ja nicht sehen. Ruhig schaute er wieder aus dem Fenster.
Die Hitze in ihr brannte immer stärker. Ihr Körper glühte so stark und sie war ihm jetzt so nahe, dass er es spüren musste.
So behutsam wie möglich versuchte Luce, über Daniels Schulter auf seinen Skizzenblock zu blicken. Einen Moment glaubte sie auf dem Blatt die geschwungene Linie ihres eigenen Profils zu erkennen. Dann musste sie blinzeln, und als sie danach wieder hinsah, merkte sie, dass sie sich getäuscht hatte.
Daniel zeichnete mit akribischer Genauigkeit den Blick durch das Fenster auf den Friedhof. Noch nie hatte Luce etwas mit solcher Trauer erfüllt.
Warum es sie so stark berührte, wusste sie nicht. Auch ihr war bewusst, dass ihre seltsame Ahnung kaum der Wirklichkeit entsprechen konnte. Es gab keinerlei Grund, warum Daniel sie hätte zeichnen sollen. Natürlich war ihr das klar. Und trotzdem. Was für einen Grund hätte er haben sollen, ihr heute Vormittag den Mittelfinger zu zeigen? Aber er hatte es getan.
»Was machst du hier?«, fragte er. Er hatte seinen Skizzenblock zugeklappt und schaute sie ruhig an. Seine Lippen waren schmal und seine grauen Augen hatten ihren Glanz verloren. Er wirkte nicht wütend, er wirkte sehr, sehr erschöpft.
»Ich bin gekommen, um mir ein Buch aus der Sondersammlung auszuleihen«, sagte sie unsicher. Aber als sie sich umblickte, erkannte sie schnell ihren Fehler. Die SONDERSAMMLUNG war keine Ansammlung von Büchern, damit war ein Bereich in der Bibliothek gemeint, in der Ausstellungsstücke zum Amerikanischen Bürgerkrieg zu sehen waren. Zwischen den Fenstern waren Bronzebüsten der Kriegshelden angebracht und in den Glasvitrinen wurden Schriftstücke und Landkarten gezeigt. Weit und breit kein einziges Buch.
»Na, dann viel Glück«, sagte Daniel und schlug den Skizzenblock wieder auf, als wollte er damit gleich auch »Und tschüss« sagen.
Luce brachte kein Wort heraus, so verlegen war sie. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Aber die Schatten waren immer noch da, und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich vor ihnen sicher, wenn sie in Daniels Nähe war. Obwohl das natürlich unsinnig war - als könnte er sie davor beschützen.
Sie stand wie angewurzelt da und rührte sich nicht. Daniel blickte auf und seufzte.
»Würde es dir gefallen, wenn sich jemand von hinten an dich heranschleicht?«
Luce war in Gedanken bei den Schatten und was sie mit ihr machten. Sie spürte die Hitze in ihrem Körper. Mechanisch schüttelte sie den Kopf.
»Dann sind wir schon zwei«, erwiderte er. Damit hatte er noch einmal klargestellt, dass sie hier der Eindringling war.
Vielleicht konnte sie ihm ja erklären, dass ihr schwindlig
war und sie sich nur für eine Minute hinsetzen musste. »Hör zu, ich will nur -«, fing sie an.
Aber Daniel packte bereits seinen Skizzenblock. »Ich bin hierhergekommen, weil ich meine Ruhe haben wollte«, unterbrach er sie. »Wenn du nicht gehst, dann gehe ich.«
Er stopfte den Skizzenblock in seinen Rucksack und drängte sich an ihr vorbei. Dabei streifte seine Schulter ihren Körper, und so kurz die Berührung auch war - und sogar durch die Sweater und T-Shirts hindurch, die sie beide anhatten -, spürte Luce, wie ein Blitz durch sie hindurchfuhr.
Eine Sekunde lang blieb auch Daniel wie erstarrt stehen. Sie wandten beide den Kopf und schauten sich an. Luce
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